Von Tahiti lernen
Vielleicht ist doch etwas dran am Gerücht, dass Susi Schläflis Vater mehrere Patente auf dem Befestigungstechniksektor besitzt. Wie sonst könnte sie sich Ferien in einem Land leisten, wo eine Cola über fünf Dollar kostet? Vom Flug dorthin ganz zu schweigen.
Die SchampBar vermutet einen Mann dahinter, und Susi unternimmt nicht viel gegen das Gerücht. Aber Geri weiss, dass sie alleine geflogen ist. Sie hat es ihm im Vertrauen gesagt. Denn immer, wenn Susi Schläfli eine längere Ortsabwesenheit plant, wird Geri zu ihrer Vertauensperson. Das hat weniger mit Geri zu tun als mit Tonito, Susis kleinem Söhnchen. Geri ist der einzige, den sie zum Babysitten überreden kann.
Tonito ist zwar bei ihren Eltern gut aufgehoben, aber Susi findet es total wichtig, dass er den Kontakt zu ihrem Umfeld nicht verliert und nicht in Schläflis Reihenhäuschen verspiessert.
Obwohl Geri diese Massnahme bei einem gut Einjährigen für übertrieben hält, holt er während Susis Abwesenheit Tonito jeden zweiten Tag zu einem kurzen Ausflug ab, der abwechslungsweise ins Fisch&Vogel oder ins Mucho Gusto führt. Schon nach wenigen Minuten ist er jeweils gezwungen, das Lokal wieder zu verlassen, denn Tonito ist am Zahnen und hasst den Kinderwagen, auf dem Geri besteht. Selbst Frau Schläfli, die im Innersten überzeugt ist, dass es sich bei Geri um den von Susi so standhaft verheimlichten Kindsvater handeln muss, schafft es nicht, ihn dazu zu bewegen, Tonito im Babybeutel vor der Brust zu tragen. Selbst bei Geri Weibel kennt das Nicht-Nein-Sagen-Können Grenzen.
Alle sind froh, als Susi wieder da ist, ausser Susi selbst. Sie trägt eine Blüte hinter dem Ohr und ist in Gedanken weit, weit weg. Sie spricht wenig, trinkt zwei Daiquiris, und als Charly ihr das Wechselgeld bringt, steckt sie alles ein und lässt statt eines Trinkgelds die bereits etwas angewelkte Hibiskusblüte auf dem Tellerchen zurück.
Charly vermutet Jetlag und stellt die Blüte in einem Schnapsgläschen neben die Kasse. „Solange sie nicht bezahlt mit Blüten“, grinst er zu Carl Schnell, als Susi gegangen ist.
Als Charly am nächsten Tag das Wechselgeld für ihre Daiquris bringt, klaubt Susi in der Handtasche. Vielleicht, denkt Charly, ist ihr das von gestern eingefallen und sie will die zwei Franken dreissig auf dem Tellerchen etwas aufstocken. Aber Susi bringt ein leeres Joghurtglas zum Vorschein und entnimmt ihm zwei weisse Stefanotisblüten. Sie schaut Charly tief in die Augen und sagt: „Danke für die nette Bedienung, Charly.“ Dann ersetzt sie das Münz auf dem Tellerchen durch die zwei Blüten und trippelt davon, wie barfuss durch den warmen Sand.
Es bleibt Geri Weibel vorbehalten, die SchampBar aufzuklären. Anlässlich des Debriefings von seinem Babysittereinsatz an einem Zweiertischchen im Fisch&Vogel, als Geri neben der Rechnung etwas Kleingeld liegen lässt, schwärmt sie ihm von der trinkgeldlosen Gesellschaft Tahitis vor. Als Susi am gleichen Abend Charly wieder mit einem aufrichtigen Dank und einer Blüte im Wechselgeldtellerchen zurücklässt, trumpft Geri mit seinem Wissensvorsprung auf.
„Du meinst, Sie gibt Charly Blüten statt Trinkgeld, um ihn nicht in seinem Stolz zu verletzen?“ staunt Robi Meili.
„Charlys Stolz“, kichert Carl Schnell, „kann man mit Trinkgeld nicht verletzen. „Es sei denn, es sei zu klein.“
Freddy Gut und Alfred Huber verschlucken sich an ihren Drinks, und Geri geniesst es, der Auslöser von soviel Heiterkeit zu sein.
Nur Charly bleibt merkwürdig still. Später, als die fünf bezahlen, nimmt er die Wechselgeldtellerchen und wischt die Trinkgelder mit dem Aschenbecherpinsel in den Abfalleimer.
Damit beginnt die trinkgeldfreie Periode der SchampBar. Die Abstellflächen um die Kasse füllen sich mit likörglasgrossen Vasen und flachen Kristallschalen, in denen Blüten schwimmen. Die Gäste gewöhnen sich an, Charly nach dem Bezahlen die Hand zu drücken und sich in aller Form für die Qualität seiner Bedienung zu bedanken. Robi Meili führt das „Billet“ ein, ein kleines Korrespondenzkärtchen mit ein paar schriftlichen Dankesworten.
Geri Weibel gelingt es, den grössten Teil der Lorbeeren für diese gastgewerbliche Revolution für sich zu beanspruchen. Susi Schläfli hat zwar mit den Blüten begonnen, aber ohne Geri, den Promoter der Idee, hätte sie sich niemals durchgesetzt. Erst als Charly die Preise um fünfzehn Prozent anhebt – von irgendetwas muss der Mensch schliesslich leben – beginnt Geri sich vorsichtig von Tahiti zu distanzieren.