Die Trendwendefrage
Die Vorzeichen sind selbst für Geri Weibels feines Sensorium kaum zu erkennen. Erst im Rückblick fügen sie sich zu einem Gesamtbild:
Robi Meili wirft einen Blick auf die Tageskarte des Mucho Gusto und sagt: „Ach, Artischockenrisotto.“ Es ist das sarkastische „Ach“, das Geri Weibel vom Wesentlichen ablenkt. Artischokkenrisotto steht seit der Eröffnung des Lokals auf der Karte. Noch nie hat er es als „Ach-Artischockenrisotto“ bezeichnet. Vielleicht hätte Geri den Trend herausgehört, wenn Robi Meili sich nicht für „Ach-Tofu-Tacos“ entschieden hätte. Aber so denkt er, es gehe um das „Ach“ als eine von Robis umgangssprachlichen Neuschöpfungen und lässt im Lauf des Mittagessens ein „Ach-Azorenhoch“ und ein „Ach-Last-Minute-Angebot“ einfliessen.
Auch bei Carl Schnell sind die ersten Symptome subtil. Er verzichtet zwar auf das „Ach“ vor dem Tofu Taco, aber auch auf das Tofu Taco selbst. „Solange die Deklaration von Gen-Mais und Gen-Soja nicht gewährleistet ist, sollte man solche Angebote ganz von der Karte nehmen“, murmelt er und entscheidet sich seufzend für das Artischokken-Risotto. Geri Weibel interpretiert die Bemerkung als punktuelle Kritik eines ökologiebewussten aber generell zufriedenen Gastes und schliesst sich Carl an. Was Robi Meili als einzigen mit „Ach-Tofu-Tacos“ einen Moment lang leicht deplaziert aussehen lässt.
Freddy Gut kommt ihm zu Hilfe. Er entscheidet sich für Artischockenrisotto. „Aus Nostalgie“, wie er erklärt. Geri nimmt an, er meine damit „als Erinnerung an die Anfänge des Mucho Gusto“. Dass Nostalgie auch mit Abschiednehmen zu tun hat, kommt ihm nicht in den Sinn.
Vielleicht hätte er den Trend ablesen können, wenn die Episode durch Susi Schläflis Beitrag ergänzt worden wäre. Ihre Trendsignale sind etwas weniger verschlüsselt. Aber Susi Schläfli ist an diesem Mittagessen gar nicht anwesend.
Auf die Idee, dies als Trendsignal zu deuten, kommt Geri in diesem Frühstadium der Entwicklung noch nicht. Erst später, als auch Robi Meili am Stammtisch fehlt, obwohl er weder krank noch in den Ferien ist, überfällt Geri Weibel eine erste Ahnung des Undenkbaren. Könnte es sein, dass das Mucho Gusto …?
Erst am Abend beim Apéro in der SchampBar wagt es Geri, den Gedanken zu Ende zu denken. Robi Meili steht an der Bar und trinkt einen Cynar (einen Cynar? Geri macht sich im Geist eine Notiz). „Ach, im Mucho Gusto“, sagt Meili, als ihm Geri sagt, er habe ihn beim Mittagessen vermisst.
Geri reagiert einigermassen kaltblütig mit einer entschuldigenden Geste, die besagt „ich weiss, ich weiss, aber irgendwo muss der Mensch ja seine Kalorien aufnehmen“. Er gibt sich auch nicht die Blösse, Robi Meili zu fragen, wo er denn gegessen habe, sondern setzt sich schweigend an die Bar, alle Sinne auf Empfang.
Robi Meili, der seit kurzem, wie er sich ausdrückt, „wieder Aktivraucher ist“, klopft eine Mentholzigarette aus dem Päckchen und steckt sie an. Aber nicht mit seinem schweren 1967er Silber-Ronson sondern mit einem Streichholz aus einem Briefchen, auf dem „Fisch&Vogel“ steht. Der Name eines neuen Lokals in der Parallelstrasse des Mucho Gusto.
Am nächsten Tag sitzt Geri Weibel unauffällig wie ein Gastrokritiker als einer der ersten Mittagsgäste im Fisch&Vogel und isst mit Dörrpflaumen gefüllte Hühnerbrust an Apple Cider Sauce, das Menu zwei, nicht übel. Gegen halb eins füllt sich das Lokal. Unter anderem mit Robi Meili, Carl Schnell und Susi Schläfli, die vom Wirt (Didier) mit zwei (zwei?) Küsschen begrüsst wird. Geri winkt ihnen über die Tische zu, sie winken zurück. Vier Habitués im Fisch&Vogel.
Das Unvorstellbare ist eingetroffen: Das Mucho Gusto ist – out.
Wie ein Ausflugslokal nach einer Salmonellen-Massenvergiftung leert sich das Lokal, das Geri so lange Heimat, Zuflucht und Orientierung gewesen ist. Immer wieder passiert ihm, dass er aus lauter Gewohnheit anstatt ins Fisch&Vogel ins Mucho Gusto steuert. Immer wieder verbringt Geri seine Mittagspause am leeren Stammtisch, dicht bedrängt vom ratlosen Wirt Esteban, der an ihm verzweifelt neue Rezepte und gastronomische Konzepte ausprobiert.
Geri Weibel bringt es nicht übers Herz, Esteban zu sagen: „vergiss es, das Mucho Gusto ist out“. Er gewöhnt sich an, zwei Mittagessen einzunehmen: ein frühes im leeren Mucho Gusto, ein spätes im überfüllten Fisch&Vogel.
„Geri Weibel ist der einzige von euch, der sich noch etwas Charakter bewahrt hat“, hält Esteban spät abends Robi Meili im Mucho Gusto vor. „Ach-Geri“, antwortet Robi Meili.