Die Freundschaftsfrage

Wenn man Ge­ri Wei­bel fra­gen wür­de, wer sein bes­ter Freund sei, kä­me er in Ver­le­gen­heit. Ge­ri hat kei­ne Freun­de, er hat ei­nen Freun­des­kreis. Und dar­un­ter be­fin­det sich nie­mand, zu dem er ein be­son­de­res Ver­hält­nis ent­wi­ckelt hät­te. Ge­ri ist der, der im­mer da ist. Wenn man ins Mu­cho Gus­to kommt und kein be­kann­tes Ge­sicht ent­deckt: Ge­ri ist da. Wenn man zu früh in den Schamp­Bar auf­taucht: Ge­ri ist schon da. Wenn die Run­de auf­bricht, und man noch one for the road braucht: Ge­ri bleibt.

Aber ob­wohl Ge­ri im­mer da ist, wenn man ihn braucht, das Zeug zum rich­ti­gen Freund hat er nicht. Da­zu ist er zu pfle­ge­leicht. Freun­de sind Leu­te, die auch et­was von ei­nem for­dern. Und sol­che gibt es weiss Gott auch oh­ne Ge­ri Wei­bel ge­nug. Ihm kann man sein Herz aus­schüt­ten oh­ne am nächs­ten Tag gleich das Ge­fühl ha­ben zu müs­sen, man soll­te sich jetzt zu ihm an den Tisch set­zen, ob­wohl an der Bar mehr los ist. Ge­ri ist be­kannt da­für, dass er ger­ne zu­hört. Al­so tut man auch ihm ei­nen Ge­fal­len, wenn man sich ihm anvertraut.

Ge­ri Wei­bel lei­det nicht un­ter die­ser Rol­le. Im Ge­gen­teil, die Vor­stel­lung, zu je­man­dem aus sei­nem Freun­des­kreis ei­ne be­son­de­re Freund­schaft zu pfle­gen, wä­re ihm eher un­an­ge­nehm. Ers­tens wür­den sich die an­de­ren viel­leicht zu­rück­ver­setzt füh­len. Und zwei­tens wä­re zu be­fürch­ten, dass ei­ne sol­che Son­der­be­zie­hung ihn zu Par­tei­nah­men zwin­gen und in Loya­li­täts­kon­flik­te stür­zen könnte.

Des­halb kommt ihm die Tren­nung von Pe­ter Gu­b­ler und Ri­ta Schnell sehr ungelegen.

Pe­ter und Ri­ta wa­ren das Traum­paar von Ge­ris Sze­ne. Im­mer wa­ren sie zu­sam­men, nie konn­ten sie die Hän­de von­ein­an­der las­sen. Wenn Pe­ter oh­ne Ri­ta oder Ri­ta oh­ne Pe­ter auf­tauch­te, er­kun­dig­te sich das hal­be Lo­kal be­sorgt nach dem Be­fin­den des andern.

Pe­ter und Ri­ta wa­ren der Mach­bar­keits­be­weis, an den sich al­le klam­mer­ten. Des­halb war die Pe­ter-Ri­ta-Kri­se ein per­sön­li­cher Af­front ge­gen sie alle.

Ei­nes abends platzt Ri­ta al­lein in die Schamp­Bar, kippt in kur­zer Fol­ge zwei Bai­leys und bricht in Trä­nen aus, als Char­ly, der Bar­man, sie beim drit­ten fragt, was los sei. Die Ge­schich­te, mit der Su­si Schläf­li nach ei­ner knap­pen Stun­de aus der Da­men­toi­let­te kommt, wo­hin sich Ri­ta ge­flüch­tet hat, lässt die Schamp­Bar ver­stum­men: Ri­ta hat­te mit ih­rer Cou­si­ne die Nach­mit­tags­vor­stel­lung von Ti­ta­nic be­sucht und vier Rei­hen vor sich Pe­ter ge­se­hen. Den Arm um ei­ne un­be­kann­te Brü­net­te gelegt.

„Ist sie si­cher, dass es Pe­ter war?“, fragt Carl Schnell, der sich auf sei­ne Be­son­nen­heit et­was einbildet.

„Er hat es zu­ge­ge­ben“ ant­wor­tet Su­si Schläf­li, jetzt selbst den Trä­nen nah ob all dem Mit­ge­fühl, das ihr, stell­ver­tre­tend für Ri­ta ent­ge­gen­strömt, die sich noch im­mer in der Da­men­toi­let­te ver­schanzt. „Es ha­be nichts mit ihr zu tun. Es sei stär­ker als er.“

„Män­ner sind Schwei­ne“, stösst Fred­dy Gut an­ge­wi­dert aus.

Die Schamp­Bar und das Mu­cho Gus­to schla­gen sich wie ein Mann auf Ri­tas Sei­te. Ge­ri Wei­bel selbst­ver­ständ­lich inbegriffen.

Aber sei­ne Ge­wohn­heit, im­mer schon oder noch da zu sein, wenn man je­man­den sucht, mit dem man re­den kann, wird ihm zum Verhängnis.

Ge­ri sitzt vor ei­nem tro­cke­nen Sher­ry – laut Ro­bi Mei­li das idea­le Ge­tränk, wenn man zu früh am Nach­mit­tag Lust auf ein Gläs­chen Al­ko­hol hat, und es bei ei­nem blei­ben soll – in der fast lee­ren Schamp­Bar. Es ist kurz vor fünf, zu spät zum Über­ho­cken, zu früh für den Apé­ro, Ge­ri weiss sel­ber nicht recht, was er hier um die­se Zeit ver­lo­ren hat. Er hat das be­schla­ge­ne Gläs­chen noch nicht ein­mal an­ge­rührt, da kommt Pe­ter Gu­b­ler her­ein, geht schnur­stracks auf Ge­ris Tisch­chen zu und setzt sich oh­ne Um­stän­de. Es geht ihm schlecht: Au­gen­rin­ge, Ap­pe­tit­lo­sig­keit, Hang zu stär­ke­ren Ge­trän­ken als tro­cke­nem Sher­ry. Nach ei­ner Stun­de kennt Ge­ri Pe­ters Ver­si­on. Nach zwei kennt er Pe­ters Ver­si­on in der über­ar­bei­te­ten Fas­sung. Nach drei ha­ben al­le, auf de­ren An­er­ken­nung er ei­ni­ger­mas­sen Wert legt, ei­nen gros­sen Bo­gen um das Tisch­chen mit Ge­ri und Pe­ter ge­macht. Bei Lo­kal­schluss gilt er prak­tisch als die trei­ben­de Kraft hin­ter Pe­ters Verrat.

Für ein paar Wo­chen hat Ge­ri Wei­bel ei­nen rich­ti­gen Freund. Pe­ter weicht nicht von sei­ner Sei­te. Ge­ri ist es, der ihm über die Tren­nung von der Brü­net­ten hin­weg­hilft und in ihm die Hoff­nung auf ei­ne Ver­söh­nung mit Ri­ta am Glim­men hält.

Und tat­säch­lich: Vier Mo­na­te spä­ter kann Pe­ter sei­ne Ri­ta wie­der in die Ar­me schliessen.

„Al­le mie­den mich, nur Ge­ri hielt treu zu mir“, sag­te Pe­ter, als er mit Ri­ta die schwe­re Zeit rekapitulierte.

So en­de­te Ge­ris ers­te ech­te Freundschaft.

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