Allmen à Lausanne
Johann Friedrich von Allmen stellt sich schlafend vor sich selbst. Das tut er oft, denn es ist selten, dass er es vor jemand anderem tun muss. Er ist am Morgen meistens alleine im Bett. Und wenn nicht, ist die Gesellschaft in der Regel eine, in deren Gegenwart er gerne wach ist. Natürlich gibt es Situationen, in denen der Abend und die Nacht so ausgeartet waren, dass sich beide Erwachenden ein wenig vor ihrer nüchternen Begegnung fürchten und sich deshalb voreinander schlafend stellen. Doch das kommt selten vor.
Vor Carlos oder María stellt er sich nie schlafend. Niemand von beiden würde den Early Morning Tea bringen, bevor sie nicht ein Lebenszeichen von Don John gehört haben.
An diesem Morgen ist er also wie meistens der einzige, vor dem er sich schlafend stellen muss.
Sich schlafend stellen ist ja etwas Äusserliches. Man behält einfach die Augen geschlossen und atmet tief und regelmässig. Innen aber denkt es unentwegt nach. Jetzt zum Beispiel über den seltsamen Ausdruck „nicht flüssig sein“. Er weiss schon, was er bedeutet: über keine flüssigen Mittel verfügen.
Aber kann man über etwas Flüssiges überhaupt verfügen? Ist es nicht per definitionem etwas Verfließendes? Etwas Nichtfesthaltbares? Was mit „Mittel“ gemeint ist, ist Allmen natürlich schon klar: Es ist einfach eine gehobene Umschreibung von Geld. Nur: Wenn es flüssig ist, ist es eine sehr unhandliche Form dieses unwichtigen aber im Prinzip schon sehr angenehmen Komforts. Unhandlich, weil man es in flüssiger Form zum Beispiel nicht mit beiden Händen zum Fenster hinaus werfen kann.
Mit solchen und ähnlichen Gedanken spielt Allmen in Situationen, in denen er sich vor sich selbst schlafend stellt. Keine bedeutenden Gedanken, nichts, was auf sein Leben einen Einfluss hätte. Dass er sich momentan in einer Situation befindet, auf welche der Volksmund wohl diesen Flüssigkeitsvergleich anwenden würde, ist reiner Zufall.
Über dem Sich-Vor-Sich-Schlafend-Stellen schläft Allmen ein und erwacht erst gegen halb elf.
Er lässt sich von Marìa das Frühstück mit der Dienstagseierspeise ins Bett bringen, wählt die Garderobe für drei Übernachtungen aus, die Carlos in zwei Koffer packt, lässt sich im Beau Rivage seine Suite mit Seeblick reservieren und fährt mit Herrn Arnold im Cadillac Fleetwood nach Lausanne.
Der lombardische Charme dieser steilen Stadt am See ist genau das, was er braucht in Gefühlslagen wie diesen, in denen er, ohne gross Gedanken daran zu verschwenden, mehr ahnt als weiss, dass der Aggregatszustand seiner Mittel sich vom flüssigen langsam zu einem hinbewegt, der einen negativen Einfluss auf seinen Lebensstandard ausüben könnte.
Nicht, dass er beabsichtigte, an der Situation selbst praktisch etwas zu ändern, das könnte selbst Lausanne nicht. Aber an ihrem Einfluss auf seine Stimmung schon. In dieser Beziehung hat ihm Lausanne stets geholfen, alles, was er nicht schwer nahm, noch ein wenig leichter zu nehmen.
(Und jetzt geht Martin Suter auf besonderen Wunsch des Lesers Reto Gamma noch in die Verlängerung:)
Drei Tage und vier Nächte bleibt Allmen am Lac Léman Er frühstückt spät im grossen Frühstückssalon und benutzt aus Fitnessgründen die Treppe anstelle des Aufzugs.
Und er macht aus dem gleichen Grund ausgedehnte Abendspaziergänge am Seeufer:
Er stattet auch aus Sentimentalität dem Antiquitätengeschäft einen Besuch ab, wo er vor bald zehn Jahren eine Kangxi-Vase hatte mitlaufen lassen („Allmen und die Libellen“, Seite 17) , die ihn wieder ein paar Tage über Wasser gehalten hatte. Das Ladengeschäft gibt es noch, aber es ist eine Nagelstudio geworden.
Am vierten Tag checkt er aus. Er unterschreibt die Rechnung, ohne auf den Schlussbetrag zu achten und lässt sein Visitenkärtchen von Allmen International Inquiries beiläufig auf den Empfangstisch gleiten. Er lässt sich vom Bellboy zu Herrn Arnolds Fleetwood geleiten und steckt ihm die Hälfte seiner gesamten restlichen Barschaft als Trinkgeld zu.
Die andere Hälfte behält er für Herrn Arnolds Trinkgeld auf.
Gut drei Stunden später ist Allmen wieder zu Hause. Weniger flüssig als er gegangen war. Mais beaucoup plus heureux.