Das Schicksal des Drehbuchautors
Vor 23 Jahren hat Martin Suter für seinen Freund, den Regisseur Daniel Schmid, das Drehbuch für Die Filmkomödie „Beresina oder die letzen Tage der Schweiz“ verfasst.
Wie es ihm dabei ergangen ist, hat er in einem amüsanten Text im Magazin des Tagesanzeiger beschrieben. Lesen Sie ihn hier nach dem Trailer.
Was hat der Drehbuchautor auf dem Set verloren?
Nichts. Seine Arbeit ist getan, sobald das Geld für den Film zusammen ist. Natürlich wird er herzlich eingeladen, doch auf jeden Fall gelegentlich hereinzuschauen. Doch es wird allgemein erwartet, dass er die Einladung höflich aber bestimmt ausschlägt.
Dass ich sie bereits am ersten Drehtag annehme, hat mit Zufällen zu tun: dem, dass ich in der Gegend bin; dem, dass ich etwas Zeit habe; dem, dass ich als Kind an jedem Regensonntag meinem Vater in den Ohren lag, er solle mit mir ins Landesmuseum fahren, die Folterkammer anschauen.
Denn am ersten Drehtag muss Elena Panova aus Moskau (sie spielt das russische Callgril Irina) Marina Confalone aus Palermo (sie spielt die Putzfrau Benedetta Hösli) aus ihrer Siesta aufschrecken, die sie auf dem Streckbett zu halten pflegt. Irina spricht nur Russisch, Marina nur Italienisch.
Der Dialog, der sich nach dem ersten Schrecken entspannt, ist deutsch:
Benedetta: Sind Sie aus dem Osten?
Irina: Merkt man das an meiner Sprache?
Benedetta: Wenn man das Ohr hat.
Irina: Sie reden auch anders.
Benedetta: Ich bin Schweizerin.
Die Folterkammer des Schweizerischen Landesmuseums ist längst schweren pädagogischen Bedenken zum Opfer gefallen. Für Beresina muss sie nachgebaut werden, und zwar aus Gründen der Authenzität im Bernischen Historischen Museum. Dort riecht es noch, wie es in einem Museum riechen muss.
Irina schreitet ehrfürchtig durch die getreue Kopie der Folterkammer unserer Kinderträume, komplett mit Guillotine, Eiserner Jungfrau und spanischen Stiefeln, bis die schlafende Putzfrau mit einem Schrei vom Streckbett hochfährt.
Beide Schauspielerinnen haben ihren Text mit Sprachtrainerinnen eingeübt. Bei Elena ist das Resultat so perfekt, dass man um ihren im Drehbuch vorgesehenen Akzent fürchten muss. Bei Marina fürchtet man um die Verständlichkeit.
Benedetta: Zinzi aus Demosten?
Irina: Merkt man das an meiner Sprache?
Benedetta: Wemm an dasorat.
Irina: Sie reden auch anders.
Benedetta: IK bin Swaíserin.
Doch, denke ich, das könnte eine Komödie werden.
Elena Panova ist eine zweiundzwanzigjährige Schauspielschülerin aus Moskau. Sie war noch nie in der Schweiz. Die Hauptrolle in Beresina ist ihre erste Filmrolle. Zum Casting kam sie per Zufall und wurde aus 25 Kandidatinnen ausgewählt.
Alle sind tief bewegt von diesem russischen Märchen. Die ganze Equipe betrachtet in den ersten Drehtagen die Weltgerührt durch Elena Panovas Augen. Ausser Elena Panova. Sie betrachtet sie durch unsere. Nur so kann ich mir ihr ironisches Lächeln erklären.
Sich selbst betrachtet sie durch die Augen der Kamera. Nie steht sie falsch im Licht, nie passieren ihr Betriebsunfälle im Gesicht, wie es Martin Benrath, ihr Partner (er spielt den alt Divisionär Vetterli) nennt. Renato Berta, der Kameramann, schwärmt, er habe noch nie so etwas gesehen. „Elle bouffe la lumière.“ (Sie frisst das Licht.)
Elena bleibt unbeeindruckt von sich selbst. Auch als Daniel Schmid an der Récéption ihres Hotels eine Szene macht, weil sich in ihrem Bad nur eine Dusche und keine Badewanne befindet.
Es ist, als durchschaue sie, dass es ihm um etwas anderes geht: Er arbeitet mit Stars. Und Stars duschen nicht, sie baden. (Auf den Hotelreservationslisten der Equipe steht bei Daniel Schmid: Badewanne!)
Autor auf dem Set
Wenn der Drehbuchautor am Drehort auftaucht, werden ihm Leute zugeteilt, die ihn ablenken müssen.
Dieser Taktik habe ich es zu verdanken, dass mir Joachim Tomaschewsky (er spielt den alt Bundesrat von Gunten) ganz privat eine ganze Auswahl von Interpretationen seiner Schlüsselszene vorspielt: Die Beschreibung seiner Herzoperation, die neun Stunden und vierunddreissig Minuten gedauert hat. Mit seinem unnachahmlichen Ausdruck zwischen Erstaunen und Empörung erklärt er: „Sie müssen sich die Arterie vorstellen wie einen Fahrradschlauch mit einer dünnen Stelle. Plötzlich bildet sich da eine kleine Blase, die füllt sich wie ein Ballon – pffff – und – Peng!“
Bis heute habe ich nicht herausgefunden, was sie drinnen auf dem Set am Dialog geändert haben, während mich weit ausserhalb der Hörweite der Equipe der eigens dazu herbestellter Tomaschewsky mit meinen eigenen Witzen zum Lachen brachte.
Die Ästhetik
Bestimmt dient auch das Gespräch mit Martin Benrath über Ästhetik ausschliesslich dem Zweck, dem Regisseur den Drehbuchautor vom Leib zu halten. Ich werde wieder einmal von genau dem Stuhl aufgescheucht, den die Ausstattung für die nächste Einstellung gesucht hat und bin dabei, mich auf genau der Kiste niederzulassen, in die der Kameraassistent gerade ein besonders unersetzliches Stück Elektronik verstauen will. Da winkt mich Martin Benrath zu sich.
„Was ist eigentlich Ihre Aufgabe auf dem Set?“, erkundigt er sich scheinheilig.
„Aufpassen, dass Daniel und Renato mit ihrer magischen Bilderwelt das Buch nicht erschlagen“, antworte ich. Eine von Daniel Schmid autorisierte Formulierung, seit sie ein guter Freund von uns beiden im engeren Kreis ungestraft verwenden durfte.
Während ich ahne, dass hinter meinem Rücken die Bilder immer magischer werden, lenkt mich Benrath mit Theateranekdoten ab. Eine habe ich behalten: Fritz Kortner (wenn ich mich nicht täusche, aber es ist meistens Fritz Kortner) flüstert während der Probe mit seinem Bühnenbildner. „Warum geht es nicht weiter?“ ruft Therese Giehse von der Bühne herunter.
„Ich habe ein Problem mit der Ästhetik“, antwortet Kortner.
„Dann lass sie weg.“
Schnurrbart eins bis fünf
Es gibt schon Möglichkeiten für einen Drehbuchautor, sich bemerkbar zu machen. Es muss nicht immer der Satz sein: „Als er zurückblickte, brannte das Tal.“ Es gibt auch kleinere Komplikationen:
Ulrich Noethen (er spielt den Dr. Waldvogel) verliert aus Gründen, die in einer anständigen Zeitschrift nichts zu suchen haben, nach jedem Rendez-vous mit Irina ein Stück seines Schnurrbarts. Klingt nur harmlos für uns Laien, die glauben, Filme werden chronologisch gedreht. Fachleute, die wissen, dass Drehpläne allen Gesetzen gehorchen außer dem der erzählerischen Logik, merken sofort, dass diese kleine Bosheit fünf verschieden gestutzte Schnurrbärte und eine eigene Schnurrbartdisposition, Schnurrbartlogistik, Schnurrbartstrategie, Schnurrbartcontinuty, Schnurrbartmaske, ein eigenes Schnurrbartlicht und ein ausgeklügeltes Schnurrbartsicherheitsdispositiv bedingt.
Sukzessive verkümmernde Schnurrbärte gehören zu den wenigen Dingen, mit denen sich ein Drehbuchautor bei der Equipe Respekt verschaffen kann. Aber in meinem Fall dienen auch sie dem Zweck der Ablenkung. Wie man die Kinder zu den Meerschweinchen schickt, wenn die Erwachsenen unter sich sein wollen, schickt man mich immer wieder zum Maskenbildner. Schauen, wie es den Schnurrbärten geht.
Die Welt ist rund
Das Weglassen und das Hinzufügen sind die Geiseln des Drehbuchautors. Die Regisseure neigen eher zum ersteren, die Schauspieler eher zum letzteren. Am Schneidetisch sehen wir uns eine meiner Lieblingsszenen an. Ivan Darvas (er spielt den Direktor Vetterli) und Stefan Kurt (er spielt den Fernseh-Chefredakteur Bürki) unterhalten sich auf einem Schiff über Geld und Moral. Alles stimmt: Der See ist verhangen, die Atmosphäre verschwörerisch, die Schauspieler sind präzise, der Dialog ist in einer einzigen Einstellung durchgespielt. Fehlerlos, bis zum letzten Satz von Direktor Vetterli:
„Wie gesagt: Geld ist neutral. Der gleiche Dollar, der gestern von der Mafia erpresst wurde, bringt morgen Enthüllungen über ihre Verbindungen mit unseren Wirtschaftsführern.“
Gerade will ich Szenenapplaus spenden, als Ivan Darvas hinzufügt:
„Die Welt ist rund, Herr Bürki. Weder gut noch schlecht. Aber sie funktioniert.“
„Woher stammt dieser Satz?“, frage ich.
„Darvas hat improvisiert“, erklärt Daniel Schmid.
„Kann man eine andere nehmen?“
„Es ist mit Abstand die beste.“
„Kann man es wegschneiden?“
Daniela Roderer (sie ist für den Schnitt verantwortlich) versucht es. Es geht natürlich nicht. Ein Profi wie Ivan Darvas spricht seine eigenen Sätze nicht so, dass man sie nachher wieder wegschneiden kann.
Die Tochter von Dick und Doof
Was hat der Drehbuchautor auf dem Filmfestival von Cannes verloren?
Auch nichts.
Aber in der Entourage von Geraldine Chaplin (sie spielt Charlotte De) ist das egal. Da zählen auch die nicht, die dort etwas zu suchen haben. Die Autogrammjäger vor dem Hintereingang des Festivalpalastes halten Daniel Schmid für Peter Greenaway. Der Festi-valdirektor begrüsst mich beim Apéro feierlich als Daniel Schmid.
Aber Geraldine Chaplin wird in Cannes nie verwechselt. Wo wir hinkommen, rufen die Leute ihren Namen, als ob sie alte Bekannte wären.
„Sind sie auch“, behauptet sie, „die kenne ich alle, seit sie sooo klein waren.“
Gemessen geht sie die rote Treppe zum Festivalpalais hinauf, nicht zu schnell und nicht zu langsam. „Geraldine! Geraldine!“ schreien die Hundertschaften der Fotografen an der Absperrung. Und jedem schenkt sie ihr Lächeln. Später, auf der Croisette, gibt sie den Star zum Anfassen. Sie knipst für jede Instantkamera ihr strahlendstes Lächeln an.
Ihr Mann, Pato Castillo, behebt schon einmal den Wackelkontakt am Blitz einer verzweifelten Hobbyfotografin. Und sie ist sich auch nicht zu schade, für einen zu posieren, der sich danach als Touristenfotograf zu erkennen gibt und ihr das Kärtchen mit der Adresse zusteckt, wo sie am nächsten Tag das Foto kaufen kann.
„Ich kauf die immer“, sagt sie, „es sind die besten.“
Geraldine Chaplin hat keine Starallüren. Aber sie hat sie im Repertoire und und kann sie abrufen, wenn es verlangt wird. Und in Cannes wird es verlangt. In Cannes scheint eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Stars und Publikum zu bestehen, sich als Stars und Publikum zu benehmen. Dass Geraldine das augenzwinkernd tut, macht sie so liebenswürdig. Es wäre ihr peinlich, arrogant zu erscheinen. Wie peinlich, dazu eine Geschichte:
Geraldine steht an einer Bar in Madrid, ein Mann kommt auf sie zu und streckt ihr die Hand entgegen. Sie hat keine Ahnung, wer es ist und rettet sich damit, dass sie ihn auf beide Wangen küsst und ausruft: „Du hier!“ Aber sie hat die ausgestreckte Hand falsch interpretiert. Der Mann wollte doch nur ein paar Peseten.
Geraldine Chaplins privates Lachen ist weniger damenhaft als das für ihr Publikum. Und es gilt immer wieder ihr selbst. Am meisten lacht sie an diesem Abend über die folgende Geschichte:
Sie und Pato betreten ein Restaurant. Eine alte Dame stösst ihre gleichaltrige Tischnachbarin an:
„Schau, die Tochter von Dings…, die Tochter von Dings…, die Tochter von Dick und Doof.“
Die Mutter aus Demosten
Elena Panova sitzt in den standartengeschmückten offiziellen Festivallimousinen als sässe sie als kleiner Vogel auf ihrer eigenen Schulter. Auf dem Roten Teppich der Treppe des Festivalpalais kann die Presse-Attachée im letzten Moment verhindern, dass Elena ihrer hübschen Dolmetscherin den Vortritt lässt. Sie wirkt, als hätte sie das alles schon oft erlebt. Nichts bringt sie aus der Ruhe. Sie lächelt sich durch die Spaliere der Fotografen, als sei sie im Blitzlichtgewitter aufgewachsen.
Und das ist sie auch. Bei einem Empfang, den Martin Benrath an einem Abend nach Drehschluss für die Equipe gab – mit einem Buffet, wie es die Garage selbst dieser Villa am Zürichberg noch nie gesehen haben dürfte – lernten wir Elenas Mutter kennen. Sie nahm uns das Versprechen ab, sie nicht an ihre Tochter zu verraten und breitete dann Fotos und Zei-tungsausschnitte vor uns aus, die Elena als Kind, Teenager und junge Frau in allen möglichen Kostümen, Rollen und Posen zeigen.
Elena hat ihr ganzes Leben im Rampenlicht verbracht. Wenn auch bisher vor allem in dem ihrer Mutter. Bei einem Fototermin mit einer Filmzeitschrift hält der gelangweilte Starfotograf Elena Panova für ein weiteres aus der langen Reihe von Starlets, die er heute noch abfertigen muss. Als er sie durch den Sucher sieht, schaut er erstaunt zu Geraldine Chaplin und fragt: „Who is she?“ Und will nicht mehr aufhören zu knipsen.
Happy End
Am 21 Mai, im Festivalpalais von Cannes, sehen Elena, Geraldine und ich «Beresina oder die letzten Tage der Schweiz» zum ersten Mal. Es wird viel gelacht, auch von uns drei. Von mir vielleicht am meisten. Wohl das Verdienst all jener, denen es am Set gelungen ist, mich von den Dreharbeiten abzulenken.
Nach der Vorführung kommt jemand zu mir und lobt die Dialoge. Vor allem die Stelle, wo Direktor Vetterli sagt, „die Welt ist rund, Herr Bürki. Weder gut noch schlecht. Aber sie funktioniert.“
Ich sage, das sei auch meine Lieblingsstelle.