Die Diskretionsfrage

Ge­ri geht sonst nie in die Lo­la Bar. Es ist ein­fach nicht sei­ne Welt: Lämp­chen, Nip­pes, Stumm­film­stars in nost­al­gi­schen Rähm­chen, Trou­vail­les aus den Bro­cken­stu­ben, Por­to­bel­lo Groo­ve der Sieb­zi­ger­jah­re. Und im­mer Za­ra Le­an­der aus un­sicht­ba­ren Boxen.

Aber es ist ei­ner die­ser feucht­kal­ten Win­ter­aben­de, an de­nen sich die Schamp­Bar leert, be­vor sie sich rich­tig ge­füllt hat. Der har­te Kern am Tre­sen zer­brö­selt und lässt ei­nen Ge­ri Wei­bel zu­rück, der we­der Lust zu ge­hen noch zu blei­ben hat. Char­lys os­ten­ta­ti­ve Wort­karg­heit ver­treibt ihn schliess­lich. Als er auf dem Weg durch die men­schen­lee­re Gas­se an der Lo­la Bar vor­bei­kommt, be­tre­ten ge­ra­de zwei jun­ge Män­ner das Lo­kal. Durch die of­fe­ne Tür dringt Ge­läch­ter. Das Ge­läch­ter von Men­schen, für die der Tag noch nicht ge­lau­fen ist. Wie für Geri.

Er geht al­so noch auf ein Glas in die Lo­la Bar. Ei­ne Ent­schei­dung, die er be­reu­en sollte.

Drin­nen herrscht ei­ne Stim­mung wie bei ei­ner Zu­sam­men­kunft der ein­zi­gen Über­le­ben­den des Welt­un­ter­gangs. Aus ei­ner bos­haf­ten Lau­ne der Na­tur al­les Män­ner. Ge­ri sucht in der Ge­trän­ke­kar­te zwi­schen BELLINIS, TIGER LADYS und PICK ME UPS nach et­was Un­ver­fäng­li­chem und ent­schei­det sich für ein klei­nes Schwei­zer Bier. Er be­zahlt gleich als der Bar­man das Fläsch­chen mit spit­zen Fin­gern bringt, als sei es ei­ne to­te Maus.

Hin­ter der Bar hängt ein gros­ser Spie­gel, durch den Ge­ri die Gäs­te in Au­gen­schein nimmt. Auf ei­ner Eck­bank di­rekt hin­ter ihm sit­zen zwei Ty­pen eng um­schlun­gen und küs­sen sich. Ge­ri schaut schnell weg, aber ir­gend­et­was treibt ihn, noch ein­mal hin­zu­schau­en. Ge­nau in die­sem Mo­ment öff­net der ei­ne die Au­gen und schaut zu Ge­ri. Ih­re Bli­cke tref­fen sich. Es ist Fred­dy Gut. Ge­ri tut, als hät­te er ihn nicht er­kannt, stürzt sein Bier run­ter und geht. Za­ra Le­an­der singt „Da­von geht die Welt nicht unter“.

Fred­dy Gut! Der Tren­nungs­grund von Klaus Trüb und Bet­ti­na Kel­ler. Fred­dy Gut! Das Ver­häng­nis von Li­ly Staub. Fred­dy Gut! Der Mann, der ihm Ada aus­ge­spannt hat­te. Ge­ri über­legt sich, ob er ein paar Ta­ge das Fisch&Vogel und die Schamp­Bar mei­den soll. Aber er ver­wirft den Plan. Je schnel­ler er Fred­dy si­gna­li­siert, dass sein Ge­heim­nis bei ihm gut auf­ge­ho­ben ist, des­to besser.

Als Ge­ri am nächs­ten Tag ins Fisch&Vogel kommt, sitzt Fred­dy Gut mit Su­si Schläf­li, Carl Schnell und Ro­bi Mei­li am Stamm­tisch. Ge­ri setzt sich ganz un­be­fan­gen da­zu, be­stellt und rich­tet sich dar­auf ein, sei­ne Mit­tags­pau­se wie üb­lich als Zaun­gast zu ver­brin­gen. Aber dies­mal ge­lingt ihm das nicht. Fred­dy Gut be­zieht ihn im­mer wie­der ins Ge­spräch ein. Wie ein rou­ti­nier­ter Gast­ge­ber ei­nen schüch­ter­nen Gast.

Am Abend, als Ge­ri die Schamp­Bar be­tritt, sitzt Fred­dy Gut al­lei­ne am Ni­schen­tisch­chen und winkt ihm schon von wei­tem zu. Ge­ri wä­re lie­ber zu den an­de­ren an die Bar ge­gan­gen. Aber er setzt sich zu ihm. Er möch­te nicht, dass Fred­dy meint, er ha­be Vorurteile.

Als die an­de­ren zum Es­sen ge­hen, sagt Fred­dy „mir ist ir­gend­wie nicht nach Fisch&Vogel“ und be­stellt oh­ne Ge­ris Ant­wort ab­zu­war­ten zwei Mor­ta­del­la Cia­batta und zwei wei­te­re Cava.

Als die an­de­ren zu­rück­kom­men, sind Ge­ri und Fred­dy voll in Fahrt. Fred­dy hat die Lo­la Bar mit kei­ner Sil­be er­wähnt. Aber je­des­mal, wenn er et­was Lus­ti­ges er­zähl­te, die Hand kurz auf Ge­ris Ober­arm ge­legt. Ei­ne Ges­te, die Ge­ri an ihm schon frü­her be­ob­ach­tet hat. Aber jetzt in­ter­pre­tiert er sie anders.

Als die Schamp­Bar schliesst, be­stellt Fred­dy ein Ta­xi. „Ich lass dich bei dir raus, liegt prak­tisch am Weg.“

Jetzt be­ginnt Ge­ri, sich ernst­haft Sor­gen zu ma­chen. Sei­ne Woh­nung liegt in der Ge­gen­rich­tung von Fred­dys. Sie fah­ren schwei­gend durch die nächt­li­che Stadt. Ge­ri nimmt sich vor, Mü­dig­keit vor­zu­schüt­zen, falls Fred­dy sich noch zu ei­nem Kaf­fee einlädt.

Aber zu sei­ner gros­sen Er­leich­te­rung wünscht ihm Fred­dy vor sei­ner Woh­nung Gu­te Nacht und lässt ihn un­be­hel­ligt aussteigen.

In den fol­gen­den Ta­gen sind Ge­ri und Fred­dy oft zu­sam­men. So­lan­ge die an­de­ren nicht über Fred­dy Be­scheid wis­sen, kann die­se neue Freund­schaft Ge­ris An­se­hen nur nüt­zen. Ge­ri re­gis­triert be­reits, dass sie ihn mit neu­em In­ter­es­se betrachten.

Am fünf­ten Abend am Ni­schen­tisch­chen der Schamp­Bar fragt Fred­dy nach dem vier­ten Cü­pli: „Wie wär’s end­lich mit ei­nem Co­ming out, Geri?“

Ge­ris Ant­wort kommt wie aus der Ka­no­ne ge­schos­sen: „Da­von wür­de ich dir drin­gend ab­ra­ten, DRINGEND.“

Fred­dy lacht. „Ich mei­ne nicht mich. Von mir wis­sen es längst al­le. Ich mei­ne dich, Geri.“

×
Login

Passwort wiederherstellen

Abonnieren
Jahresabo für 60 Franken
Probeabo

Falls Sie einen Code besitzen, geben Sie diesen hier ein.

Gutschein

Martin Suter kann man auch verschenken.
Ein ganzes Jahr für nur 60 Franken.
Versandadresse: