Das große Martin-Suter-Interview
Der Journalist und Filmemacher Norbert Jenal hat im letzten Spätsommer mit dem Schriftsteller ein sehr großes und sehr persönliches Interview geführt. Wir veröffentlichen es hier exklusiv in vier Teilen. Diesmal geht es um Entscheidungen treffen, Identitäten wechseln und ernst bleiben können.
Norbert Jenal: Die erste Frage: Wer bist du?
Suter: Das ist eine Frage, die mich immer beschäftigt hat. Es ist das Thema meiner Bücher, meiner Kolumnen „Business Class“ und „Richtig leben mit Geri Weibel“. Es geht immer um die Identität. Und in der Identität geht es ja immer wieder um Schein und Sein.
Ich kann aber die Frage nicht beantworten. Die Frage ist mein Thema, nicht die Antwort. Wer bin ich? Und wer könnte ich noch sein? Das ist auch das Thema meiner Romanfiguren.
Jenal: Wenn du sagst, wer könntest du noch sein, wer wärest du denn gerne?
Suter: Man kann ja heutzutage fast alles sein. Wer man ist, ist nicht mehr etwas so Definitives, wie es das früher war. Da war man halt Schneider oder Landvogt und blieb das dann auch.
Jenal: Das ist dann die berufliche Seite. Und die persönliche Seite? Wie würdest du dich denn umschreiben so, wie du dich kennst?
Suter: Auch das ist nichts Definitives. Ich habe in meinem Leben verschiedene Identitäten gehabt. Manchmal am gleichen Tag verschiedene. Ich erinnere mich an die Zeiten in der Werbung. Wir waren oft bei Besprechungen oder Präsentationen in den Geschäftsetagen mit dem Management. Da war man ganz anders als danach. Bei schönem Wetter gingen wir nachher in die Gartenwirtschaft, hängten die Krawatte über die Stuhllehne und aßen einen Wurstkäsesalat und tranken ein Bier oder zwei.
Als wir in Ibiza lebten, habe ich Wein gekeltert, Olivenernten organisiert, aber daneben auch Bücher geschrieben. Das sind schon andere Identitäten. Ich wollte zwar immer schreiben und Schriftsteller werden und bleiben, aber ich habe auch das immer wieder geändert, weil ich von der Schriftstellerei nicht leben konnte oder glaubte, nicht leben zu können. Deswegen habe ich immer wieder Werbung gemacht. Später Georeportagen oder Fernsehstücke. Andere Tätigkeiten sind auch immer wieder andere Identitäten. Aber wenn ich mich auf eine festlegen muss, dann bin ich Geschichtenerzähler und ‑erfinder.
Jenal: Dann identifizierst du dich mit dem jeweiligen beruflichen Alltag?
Suter: Nicht nur dem beruflichen. Als wir spät im Leben unserer Kinder adoptiert hatten, gab es da plötzlich zwei kleine Wesen, die mich Papa nannten. Das ist ja auch kein Beruf, das ist eine Identität. Dann bin ich ein Papa. Daran musste ich mich gewöhnen.
Jenal: Wie kam es dazu, dass ihr in diesem Alter noch Kinder wolltet?
Suter: Wir wollten immer Kinder, aber das hat nicht geklappt. Wir lebten schon viele Jahre in Guatemala und plötzlich wurde uns klar, dass es, vor allem in der Dritten Welt, nicht die Kinder sind, die fehlen. Es sind die Eltern. Wir haben uns nach langer Zeit kurzfristig entschlossen, zwei Kinder zu adoptieren. Das war nicht ein Umdenken, sondern es war plötzlich möglich. Weil wir in Guatemala niedergelassen waren, durften wir dort Kinder adoptierten. Wir wurden Eltern von zwei Kindern mit guatemaltekischen Pässen.
Wenn wir die Schweiz besuchten mit unseren Kindern, dann hatten sie nur ein Touristenvisum. Wir mussten mit Ihnen auch das Schweizer Adoptionsprozedere durchlaufen. Da wir uns schon vor der Adoption mit denen beraten hatten, lief das dann ziemlich verständnisvoll.
Jenal: Das war ein Zwillingspaar, oder?
Suter: Sie waren fast am gleichen Tag geboren und wuchsen auf wie Zwillinge. Wenn man gleich alt ist und im gleichen Zimmer schläft und zusammenlebt, dann ist der Unterschied nicht spürbar. So wie er nicht spürbar ist zwischen eigenen und adoptierten Kindern.
Jenal: Ist er nicht spürbar?
Suter: Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Kinder mehr lieben könnte wie wir unsere lieben.
Jenal: Ich würde kurz noch einen Bogen zurück machen zu deiner eigenen Kindheit. Du bist ja viel gereist, du warst in vielen Ländern. Und hast als Kind auch schon an verschiedenen Orten gelebt, also in Zürich, in Fribourg, in Basel. Wie hast du diese Wechsel jeweils erlebt?