Tief im Gotthard
Stephan Eicher, die Kruger Brothers, Martin Suter, Reyn Ouwehand und das von Lena-Lisa Wüstendörfer geleitete Swiss Orchestra stehen am 25. und 26. Oktober gemeinsam auf der Bühne in der Andermatt Concert Hall.
Unter anderem stellen Stephan Eicher und Martin Suter dort neue Songs vor für das zweite Songbook. Es wird wie immer eine Sammlung von neuen Liedern und den fiktiven Geschichten darüber, wie sie entstanden sind.
Zum Beispiel so:
Tief im Gotthard
Es ist nicht leicht, für eine Band und ein ganzes Symphonie-Orchester ein Probelokal zu finden.
Die Übungslokalsuchtruppe fand nach Wochen das Geeignete auf dem Gotthard. Besser gesagt, in diesem. Das Gotthardmassiv ist ja eine gigantische Festung, eine unterirdische Schweiz. In einer dieser Festungsanlagen mietete sich Band und Orchester ein.
Der Eingang befand sich in einer unscheinbaren Alphütte. Ihre Fassade ließ sich aufklappen wie ein Garagentor, dahinter ein gepanzertes Schiebetor, dessen Hydraulik unter der mangelhaften Wartung litt und unangenehm quietschte.
Vorbei an einem ausgedienten Festungsgeschütz ging es durch einen kurzen Tunnel zu einem Saal, der früher als Mannschaftskantine und Theoriesaal benutzt worden war. Ideal, wenn man von der Vorkriegslüftungsanlage absah, die während der Pianissimo Passagen etwas störte.
In dieser Festung verbrachten das Swiss Orchestra und seine Dirigentin, Lina-Lisa Wüstendörfer, Stephen Eicher und seine Band, die Techniker und Roadies, die Köchin und die Küchenmannschaft und ein Schriftsteller für das Textliche, eine dreiwöchige Probeklausur. Von der Außenwelt abgeschnitten, außer während der täglichen Stunde Freigang auf der Alp.
Bei einem solchen Freigang kam der diensthabende Schriftsteller, Martin Suter, abhanden. Die Luft war so frisch, der Himmel so türkis, die Sonne so diamanten, dass er einfach dem nächsten dünnen Kuhpfad folgte und tief in Gedanken an woanders immer weiterstieg. Er bemerkte nicht, wie schnelle, wütende Wolken alles Frische, Weiße, Türkise und Diamantene erstickten. Erst als ihn schwere, kalte Tropfen trafen und eine eisige Böe an seiner Krawatte zerrte, erwachte er in der Wirklichkeit und begann, den Pfad hinunter zu balancieren.
Zweimal teilte sich die Spur, zweimal wählte er die falsche. Als er endlich die Alphütte erreichte, war die Freigangstunde längst vorüber. Er klopfte an die Tür und an die geschlossenen Fensterläden, zuerst schüchtern, dann verzweifelt, dann resigniert. Niemand hörte ihn durch die gepanzerte Tür hinter der gefälschten Fassade.
Er setzte sich schlotternd auf die Scheitstock-Attrappe.
Im Proberaum kamen sie an die Stelle, an der Martin Suter eine der Geschichten über die Entstehung des nächsten Songs erzählen sollte. Aber dort, wo er das tun sollte, beleuchtete der Scheinwerfer nur einen leeren Hocker und ein Tischchen mit ein paar Manuskriptblättern und einer Mundharmonika.
Kurz darauf hörte Suter das Quietschen der Schiebetor-Hydraulik und stieg steif von der Scheitstock-Attrappe. Die Fassade hob sich und Stephen Eicher, die Band und das ganze Symphonieorchester standen vor ihm.
Eicher nahm ihn bei der Hand und sagte: «Chum a Schärme.»
Fünf Tage kurierte Martin Suter im schmalen Bett in einem der Zwölferzimmer seine Erkältung aus. Dort entstand der Text zu «Chum i Schärme».
Der gefiel der Band und dem Orchester so gut, dass, als er sich wieder genesen verabschiedete, Stephan Eicher ihn bat: «Bliib no chli.»
So ist «Bliib no chli» entstanden.