Die neun Briefe, die Frau Dr. Anna Frei heute im Kamin verbrennt.

Mar­tin Su­ter in den frü­hen sieb­zi­ger Jah­ren, der Zeit, in der er für ei­nen Kurz­ge­schich­ten­wett­be­werb der Mi­gros die­sen Kri­mi schrieb.
Und ge­gen Di­vi­sio­när Ernst Wet­ter verlor.

14. März

Sehr ge­ehr­ter Herr Dr. Frei,

Mir liegt dar­an, auch auf die­sem Weg für den lan­gen Abend in der wohl­tu­en­den At­mo­sphä­re Ih­res stil­vol­len Hau­ses herz­lich dan­ke zu sagen.

Schön und selt­sam, dass wir bei­de dem glei­chen ku­rio­sen Ste­cken­pferd ver­fal­len sind. Ich bin si­cher, es gibt in ganz Eu­ro­pa nur ei­ne klei­ne Hand­voll Ex­zen­tri­ker, die mit der­sel­ben Pe­dan­te­rie und Sys­te­ma­tik Zi­gar­ren-Ban­de­ro­len sam­meln. Ich freue mich dar­auf, Ih­nen ei­nes Ta­ges mei­ne ei­ge­ne Samm­lung zu zei­gen. Wenn sie auch nicht so um­fas­send ist, so sind doch ei­ni­ge Stü­cke dar­un­ter, die Sie in­ter­es­sie­ren dürften.

Bit­te, sa­gen Sie Frau Dr. Frei, ich ken­ne kei­ne voll­ende­te­re Gast­ge­be­rin und sei glück­lich über den klei­nen Zwi­schen­fall im Ca­fé Schnei­der, dem ich un­se­re Be­kannt­schaft und den gest­ri­gen Abend verdanke.

Ich grüs­se Sie Hoch­ach­tungs­voll und herzlich. 

Ihr
Hein­rich Werner

6. April

Sehr ge­ehr­ter Herr Dr. Frei,

In der Hoff­nung, dass es zwi­schen Dé­bus­sy und Dé­jeu­ner ein paar Stun­den gibt, die noch nie­man­dem ver­spro­chen sind, möch­te ich Sie um ei­ne Ge­le­gen­heit bit­ten, mich für da­mals ein we­nig zu re­van­chie­ren, und Sie und Ih­re Frau nach dem Frei­tags­abon­ne­ment auf ei­nen Schlum­mer­trunk zu mir nach Hau­se laden.

Ich le­ge die­sem Brief zwei Par­ta­g­as Fehl­dru­cke bei, die ich dop­pelt ha­be. Ich bin nicht si­cher, ob die Se­rie 1953 oder 1955 ent­stand. Be­stimmt aber noch un­ter Ba­tis­ta. Was ist Ih­re Meinung?

Es wä­re schön, wenn Sie kämen. 

Hoch­ach­tungs­voll

Ihr
Hein­rich Werner

13. April

Lie­ber Karl,

Es wur­de spät vor­ges­tern, und wenn es mei­ne Schuld war, will ich um Ver­zei­hung bit­ten. Ein Teil der Schuld trifft al­ler­dings auch den Halau­er, und dass er auch Dein Lieb­lings­wein ist. Ein Teil auch die Un­päss­lich­keit Dei­ner Frau, und dass sie uns da­mit zu die­sem Abend ver­half. Und ein Teil schliess­lich auch Dich, und dass Du so über Tho­mas Mann denkst.

Sei dar­auf ge­fasst, dass ich Dich beim Wort neh­me und her­ein­plat­ze, wenn Dei­ne Frau nächs­te Wo­che in Pont­resi­na ist. Halau­er hin, Halau­er her.

Lie­be Grüs­se, auch an Dei­ne Frau. 

Dein
Hein­rich

2. Mai

Karl,

Lass mich ganz be­hut­sam sein. Was ges­tern zwi­schen uns ent­stand, ist wie der Hauch, der die Schei­be be­schlägt. Je­des Wort kann die Hand sein, die die Schei­be sau­ber wischt.

So we­nig hast Du Dich al­so ge­kannt. Oder so sehr hast Du Dich Dir verheimlicht.

Ich lie­be Dich. 

Dein
Hein­rich

P.S. Mir ist per Zu­fall ein Bra­sil­va Prä­ge­druck von ei­ner de­fek­ten Stanz­form un­ter­ge­kom­men. Ich bring ihn mit.

17. Mai

Was heisst, ich soll kei­ne sol­chen Brie­fe mehr schrei­ben? Kei­ne sol­chen Brie­fe emp­fan­gen ist schlimm ge­nug. Es ist kei­ne Krank­heit, die nur aus­bricht, wenn man sie aus­spricht. Der Kon­zern? Die Fa­mi­lie? Ich kann mich nicht der­art in Dir ge­täuscht ha­ben. Ei­ner wie Du muss über dem stehen.

Sei nicht prü­de. Sei nicht wort­karg. Tu mir nicht weh. Wenn ich dürf­te, schrie­be ich wie­der: “Ich lie­be Dich”.

Dein Hein­rich

12. Ju­ni

Lie­ber Karl,

Dei­ne Zei­len klin­gen, wie wenn Du Sie Dei­ner Se­kre­tä­rin dik­tiert hät­test. Aus nächs­tem Mitt­woch kann nichts wer­den. Tut mir leid, dass Du Mar­seil­le des­halb ver­scho­ben hast.

Lie­be Grüs­se.
Dein Hein­rich

16. Ju­ni

Lie­ber Karl,

Du hältst mich auf Di­stanz und fragst mich, wes­halb ich di­stan­ziert sei. Wenn Du für mich kei­ne Wor­te fin­dest, muss ich wie­der spa­ren mit den Wor­ten, die ich sel­ber habe.

Ich glaub­te, der, den ich weck­te, wür­de sich je­den Au­gen­blick zu­rück­ho­len, den ihm der Schlaf ge­raubt hat­te. Jetzt ist er wach und vol­ler Angst, er­wacht zu sein.

Leb wohl.

Dein gu­ter Freund
Hein­rich

25. Ju­ni

Mein Karl,

Es sieht Dir ähn­lich, mich mit nichts Ge­rin­ge­rem zu be­schä­men, als mit Zei­len, die das Le­ben än­dern. Dein Be­kennt­nis kann nur noch je­ne Fol­gen ha­ben, vor de­nen Du die Au­gen schliesst, sonst ist es kei­nes. Und das kann nicht sein.

Du musst Dei­ner Frau al­les sa­gen. Du musst ihr bei­brin­gen, dass Du und ich von jetzt an im­mer zu­sam­men sein wer­den. Viel­leicht wird sie es nicht ver­ste­hen. Aber sie wird es verkraften.

Du hast näm­lich kei­ne Wahl. Ich ha­be Dei­nen Lie­bes­brief an Dei­ne Frau ge­schickt. Weil ich Dich ken­ne. Und da­mit sie in Dei­nen schöns­ten Wor­ten er­fährt, wie es um uns steht.

Sei nicht wü­tend, denn ich ha­be es für uns ge­tan. Ge­duld ist manch­mal kei­ne Tugend.

Ich bin jetzt glücklich. 

Dein
Hein­rich

P. S. Dan­ke für die hand­si­gnier­te Davidoff.

H.

2. Ju­li

Liebs­te Anna,

Dass er sich das Le­ben nahm, gibt Dir recht: Du hast ihn gut ge­kannt. Wie scheuss­lich er sich das Le­ben nahm, gibt ihm recht: Du hast ihn schlecht gekannt.

Mach Dir nichts draus, der Plan war gut, und al­les lief da­nach. Dass es Karl jetzt noch ge­lun­gen ist, uns im Ge­fühl zu­rück­zu­las­sen, er hät­te et­was ge­ahnt, das wol­len wir sei­nem An­denken gönnen.

Wenn der ers­te Rum­mel vor­über ist, wer­de ich ganz bei Dir sein. Nach fast drei Jah­ren. Es gibt viel zu vergessen.

Vol­ler Liebe. 

Dein
Hein­rich

P.S. Ver­bren­ne al­le Brie­fe. Mit die­sem sind es neun.

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