Die neun Briefe, die Frau Dr. Anna Frei heute im Kamin verbrennt.
14. März
Sehr geehrter Herr Dr. Frei,
Mir liegt daran, auch auf diesem Weg für den langen Abend in der wohltuenden Atmosphäre Ihres stilvollen Hauses herzlich danke zu sagen.
Schön und seltsam, dass wir beide dem gleichen kuriosen Steckenpferd verfallen sind. Ich bin sicher, es gibt in ganz Europa nur eine kleine Handvoll Exzentriker, die mit derselben Pedanterie und Systematik Zigarren-Banderolen sammeln. Ich freue mich darauf, Ihnen eines Tages meine eigene Sammlung zu zeigen. Wenn sie auch nicht so umfassend ist, so sind doch einige Stücke darunter, die Sie interessieren dürften.
Bitte, sagen Sie Frau Dr. Frei, ich kenne keine vollendetere Gastgeberin und sei glücklich über den kleinen Zwischenfall im Café Schneider, dem ich unsere Bekanntschaft und den gestrigen Abend verdanke.
Ich grüsse Sie Hochachtungsvoll und herzlich.
Ihr
Heinrich Werner
6. April
Sehr geehrter Herr Dr. Frei,
In der Hoffnung, dass es zwischen Débussy und Déjeuner ein paar Stunden gibt, die noch niemandem versprochen sind, möchte ich Sie um eine Gelegenheit bitten, mich für damals ein wenig zu revanchieren, und Sie und Ihre Frau nach dem Freitagsabonnement auf einen Schlummertrunk zu mir nach Hause laden.
Ich lege diesem Brief zwei Partagas Fehldrucke bei, die ich doppelt habe. Ich bin nicht sicher, ob die Serie 1953 oder 1955 entstand. Bestimmt aber noch unter Batista. Was ist Ihre Meinung?
Es wäre schön, wenn Sie kämen.
Hochachtungsvoll
Ihr
Heinrich Werner
13. April
Lieber Karl,
Es wurde spät vorgestern, und wenn es meine Schuld war, will ich um Verzeihung bitten. Ein Teil der Schuld trifft allerdings auch den Halauer, und dass er auch Dein Lieblingswein ist. Ein Teil auch die Unpässlichkeit Deiner Frau, und dass sie uns damit zu diesem Abend verhalf. Und ein Teil schliesslich auch Dich, und dass Du so über Thomas Mann denkst.
Sei darauf gefasst, dass ich Dich beim Wort nehme und hereinplatze, wenn Deine Frau nächste Woche in Pontresina ist. Halauer hin, Halauer her.
Liebe Grüsse, auch an Deine Frau.
Dein
Heinrich
2. Mai
Karl,
Lass mich ganz behutsam sein. Was gestern zwischen uns entstand, ist wie der Hauch, der die Scheibe beschlägt. Jedes Wort kann die Hand sein, die die Scheibe sauber wischt.
So wenig hast Du Dich also gekannt. Oder so sehr hast Du Dich Dir verheimlicht.
Ich liebe Dich.
Dein
Heinrich
P.S. Mir ist per Zufall ein Brasilva Prägedruck von einer defekten Stanzform untergekommen. Ich bring ihn mit.
17. Mai
Was heisst, ich soll keine solchen Briefe mehr schreiben? Keine solchen Briefe empfangen ist schlimm genug. Es ist keine Krankheit, die nur ausbricht, wenn man sie ausspricht. Der Konzern? Die Familie? Ich kann mich nicht derart in Dir getäuscht haben. Einer wie Du muss über dem stehen.
Sei nicht prüde. Sei nicht wortkarg. Tu mir nicht weh. Wenn ich dürfte, schriebe ich wieder: “Ich liebe Dich”.
Dein Heinrich
12. Juni
Lieber Karl,
Deine Zeilen klingen, wie wenn Du Sie Deiner Sekretärin diktiert hättest. Aus nächstem Mittwoch kann nichts werden. Tut mir leid, dass Du Marseille deshalb verschoben hast.
Liebe Grüsse.
Dein Heinrich
16. Juni
Lieber Karl,
Du hältst mich auf Distanz und fragst mich, weshalb ich distanziert sei. Wenn Du für mich keine Worte findest, muss ich wieder sparen mit den Worten, die ich selber habe.
Ich glaubte, der, den ich weckte, würde sich jeden Augenblick zurückholen, den ihm der Schlaf geraubt hatte. Jetzt ist er wach und voller Angst, erwacht zu sein.
Leb wohl.
Dein guter Freund
Heinrich
25. Juni
Mein Karl,
Es sieht Dir ähnlich, mich mit nichts Geringerem zu beschämen, als mit Zeilen, die das Leben ändern. Dein Bekenntnis kann nur noch jene Folgen haben, vor denen Du die Augen schliesst, sonst ist es keines. Und das kann nicht sein.
Du musst Deiner Frau alles sagen. Du musst ihr beibringen, dass Du und ich von jetzt an immer zusammen sein werden. Vielleicht wird sie es nicht verstehen. Aber sie wird es verkraften.
Du hast nämlich keine Wahl. Ich habe Deinen Liebesbrief an Deine Frau geschickt. Weil ich Dich kenne. Und damit sie in Deinen schönsten Worten erfährt, wie es um uns steht.
Sei nicht wütend, denn ich habe es für uns getan. Geduld ist manchmal keine Tugend.
Ich bin jetzt glücklich.
Dein
Heinrich
P. S. Danke für die handsignierte Davidoff.
H.
2. Juli
Liebste Anna,
Dass er sich das Leben nahm, gibt Dir recht: Du hast ihn gut gekannt. Wie scheusslich er sich das Leben nahm, gibt ihm recht: Du hast ihn schlecht gekannt.
Mach Dir nichts draus, der Plan war gut, und alles lief danach. Dass es Karl jetzt noch gelungen ist, uns im Gefühl zurückzulassen, er hätte etwas geahnt, das wollen wir seinem Andenken gönnen.
Wenn der erste Rummel vorüber ist, werde ich ganz bei Dir sein. Nach fast drei Jahren. Es gibt viel zu vergessen.
Voller Liebe.
Dein
Heinrich
P.S. Verbrenne alle Briefe. Mit diesem sind es neun.