6. Kapitel

Lila, Lila von Martin Suter

Sie schlief aus, wie frü­her in der Pu­ber­tät. Sie war kurz er­wacht und hat­te Ot­to auf dem Nacht­tisch­chen ge­se­hen und sich wie­der um­ge­dreht.  Ot­to war ein ge­flick­ter ver­wa­sche­ner Ted­dy aus ih­rer Kind­heit. Wenn er auf dem Nacht­tisch­chen sit­zen durf­te, hieß das, dass sie am Mor­gen kei­ne Uni hat­te. Sonst schlief er in der Schub­la­de. Es sei denn, sie schlief nicht al­lei­ne. Dann muss­te Ot­to auch in der Schub­la­de schla­fen. Denn nicht al­lei­ne schla­fen be­deu­te­te auch: kei­ne Uni.

Wenn sie kei­ne Uni hat­te, ar­bei­te­te sie zu Hau­se oder im Ver­lag. Dort hat­te sie ei­nen Schreib­tisch in ei­nem Bü­ro für Vo­lon­tä­rin­nen. So stand es an der Tür: «Vo­lon­tä­rin­nen». Ob­wohl es manch­mal auch Vo­lon­tä­re gab. Aber wenn sich ei­ner dar­an stör­te, in ei­nem Bü­ro zu ar­bei­ten, das mit «Vo­lon­tä­rin­nen» an­ge­schrie­ben war, wur­de er aus­ge­lacht. «Was sol­len denn wir sa­gen?», wur­de er von den Frau­en ge­fragt. «Das Mas­ku­li­num be­glei­tet uns das gan­ze Leben.»

Ma­rie war kei­ne mi­li­tan­te Gen­de­ri­sie­re­rin. Sie fand es ein we­nig doof, dass sich Vo­lon­tä­re in ein Bü­ro set­zen muss­ten, an dem «Vo­lon­tä­rin­nen» stand. Sie hat­te ein­mal vor­ge­schla­gen, die Tür mit «Vo­lon­ta­ri­at» an­zu­schrei­ben, und galt bei den Kol­le­gin­nen seit­her ein we­nig als «Fräu­lein».

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