Geri wird Agglo
Wie einer wohnt, dessen gesellschaftliches Leben sich in zwei, drei Lokalen abspielt, ist von zweitrangiger Bedeutung. Es kommt selten vor, dass sich jemand nach Lokalschluss für Geris Sammlung kubanischer Boleros interessiert. Und wenn, kann er sich auf die Diskretion der Besucherinnen verlassen. Eine Nacht bei Geri Weibel gehört nicht zu den Abenteuern, mit denen man in der Szene herumprahlt.
So hält sich Geris Schock in Grenzen, als er einen Brief der Hausverwaltung vorfindet, in dem die Umwandlung seiner Mietwohnung in eine Eigentumswohnung angekündigt wird. Er nimmt sich vor, sich gelegentlich nach einer neuen Bleibe umzusehen.
Er gibt dem Projekt die gleiche Prioritätsstufe wie dem Besuch bei der Dentalhygienikerin, und so kommt es, dass er trotz der grosszügigen Kündigungsfrist unter Zeitdruck gerät. Als er Nina Bellini von der Hausverwaltung zum zweiten Mal um Aufschub ersucht, sagt sie ihm, sie glaube, sie habe genau das Richtige für ihn.
Geri verspricht vorbeizukommen. Nicht, weil ihn Nina Bellinis Angebot interessiert. Aber er wollte schon lange wissen, wie Nina Bellini aussieht.
Nina Bellini sieht so aus, dass Geri nach einer kurzen Besichtigung den Mietvertrag für einen zur Wohnung ausgebauten Lagerraum mit Blick auf ein Rangiergeleise unterschreibt. Das Objekt liegt in einem Industriequartier, das laut Nina Bellini „voll im Trend liegt“. Er kann ihr nicht sagen, dass in seinen Kreisen nicht Nina Bellini die Trends beurteilt, sondern Robi Meili. Und der hält bisher eisern am direkten Einzugsgebiet des Dreiecks Mucho Gusto – Fisch&Vogel – SchampBar fest. Geri wird seine neue Adresse vorläufig unter Verschluss halten müssen. Aber das ist aus den erwähnten Gründen eine lösbare Aufgabe.
Er fühlt sich auf Anhieb wohl in der kleinen Loft. Sie ist geräumig, hell, günstig und besitzt gute Verkehrsverbindungen zu Mucho Gusto, Fisch&Vogel und SchampBar.
Obwohl diese, rein kulinarisch betrachtet, nicht nötig wären. In Geris neuem Quartier schiessen nämlich die Lokale wie die Pilze aus dem Boden. Und die meisten sind gut besetzt, soweit er das von aussen beurteilen kann.
Nach ein paar Wochen fängt er an, das eine oder andere der Lokale auf dem Nachhauseweg auch von innen zu beurteilen. Nicht als Abtrünniger, mehr als Trend-Scout. Viel länger wird man die Szene, die hier vor seiner Haustür entststeht, auch in seinen Kreisen nicht mehr ignorieren können. Dann wird er sich als Kenner outen.
Lange ist kein Ende von Geris Doppelleben in Sicht. Die Szene im Industriequartier ist kein Thema bei seinesgleichen. Und dazu, es von sich aus anzuschneiden, fehlt Geri der Mut.
Eines Abends trifft er Robi Meili, als er an seiner Station aus dem Tram steigt. Robi war im vorderen Wagen, die Begegnung ist nicht zu vermeiden.
„Verkehrst du jetzt auch hier?“ fragt Meili spöttisch. „Nein, nein“, stottert Geri, „ich steige hier nur um. Ich wohne jetzt nämlich ausserhalb.“
Während Geri an der Haltestelle so tut, als warte er auf seinen Anschluss, sieht er Robi Meili im hell erleuchteten SOFORT! verschwinden, einem neueröffneten Ethno-Takeaway, in dem Kunden die Takeways gleich im Stehen essen und bei ein paar Gläsern hängen bleiben. Ihm schwant, dass er einen Fehler gemacht hat.
Er täuscht sich nicht. Schon ein paar Tage später wird er im Fisch&Vogel Zeuge, wie Robi Meili, Susi Schläfli und Carl Schnell das gastronomische Konzept des SOFORT! loben. „Solltest auch Mal reinschauen, auf dem Nachhauseweg, Geri“, rät ihm Meili und erklärt den anderen: „Geri wohnt jetzt nämlich ausserhalb.“
Vielleicht hätte Geri in diesem Moment die Sache noch ohne grossen Gesichtsverlust richtigstellen können. Aber er tut es nicht. Und muss mitansehen, wie einer nach dem anderen aus seiner Clique den Lebensmittelpunkt ins neue Quartier verlagert, in umgebaute Fabrikräume zieht und die Treffs der neuen Umgebung frequentiert. Mucho Gusto, Fisch&Vogel und SchampBar werden zu Agglotreffs erklärt und gemieden.
Geri Weibel, der heimliche Pionier des neuen Quartiers, hat noch keinen Weg gefunden, wie er, ohne als Nachäffer zu gelten, offiziell in die Wohnung ziehen könnte, in der er schon so lange wohnt. Vorläufig muss er, wie jeder andere Agglo auch, immer wenn es am schönsten ist auf die letzte S‑Bahn in seinen Vorort spurten. Und hoffen, dass ihn niemand erkennt, wenn er in seine Loft schleicht.