×

Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Geri wird Agglo

Wie ei­ner wohnt, des­sen ge­sell­schaft­li­ches Le­ben sich in zwei, drei Lo­ka­len ab­spielt, ist von zweit­ran­gi­ger Be­deu­tung. Es kommt sel­ten vor, dass sich je­mand nach Lo­kal­schluss für Ge­ris Samm­lung ku­ba­ni­scher Bo­le­ros in­ter­es­siert. Und wenn, kann er sich auf die Dis­kre­ti­on der Be­su­che­rin­nen ver­las­sen. Ei­ne Nacht bei Ge­ri Wei­bel ge­hört nicht zu den Aben­teu­ern, mit de­nen man in der Sze­ne herumprahlt.

So hält sich Ge­ris Schock in Gren­zen, als er ei­nen Brief der Haus­ver­wal­tung vor­fin­det, in dem die Um­wand­lung sei­ner Miet­woh­nung in ei­ne Ei­gen­tums­woh­nung an­ge­kün­digt wird. Er nimmt sich vor, sich ge­le­gent­lich nach ei­ner neu­en Blei­be umzusehen.

Er gibt dem Pro­jekt die glei­che Prio­ri­täts­stu­fe wie dem Be­such bei der Den­tal­hy­gie­ni­ke­rin, und so kommt es, dass er trotz der gross­zü­gi­gen Kün­di­gungs­frist un­ter Zeit­druck ge­rät. Als er Ni­na Bel­li­ni von der Haus­ver­wal­tung zum zwei­ten Mal um Auf­schub er­sucht, sagt sie ihm, sie glau­be, sie ha­be ge­nau das Rich­ti­ge für ihn.

Ge­ri ver­spricht vor­bei­zu­kom­men. Nicht, weil ihn Ni­na Bel­li­nis An­ge­bot in­ter­es­siert. Aber er woll­te schon lan­ge wis­sen, wie Ni­na Bel­li­ni aussieht.

Ni­na Bel­li­ni sieht so aus, dass Ge­ri nach ei­ner kur­zen Be­sich­ti­gung den Miet­ver­trag für ei­nen zur Woh­nung aus­ge­bau­ten La­ger­raum mit Blick auf ein Ran­gier­ge­lei­se un­ter­schreibt. Das Ob­jekt liegt in ei­nem In­dus­trie­quar­tier, das laut Ni­na Bel­li­ni „voll im Trend liegt“. Er kann ihr nicht sa­gen, dass in sei­nen Krei­sen nicht Ni­na Bel­li­ni die Trends be­ur­teilt, son­dern Ro­bi Mei­li. Und der hält bis­her ei­sern am di­rek­ten Ein­zugs­ge­biet des Drei­ecks Mu­cho Gus­to – Fisch&Vogel – Schamp­Bar fest. Ge­ri wird sei­ne neue Adres­se vor­läu­fig un­ter Ver­schluss hal­ten müs­sen. Aber das ist aus den er­wähn­ten Grün­den ei­ne lös­ba­re Aufgabe.

Er fühlt sich auf An­hieb wohl in der klei­nen Loft. Sie ist ge­räu­mig, hell, güns­tig und be­sitzt gu­te Ver­kehrs­ver­bin­dun­gen zu Mu­cho Gus­to, Fisch&Vogel und SchampBar. 

Ob­wohl die­se, rein ku­li­na­risch be­trach­tet, nicht nö­tig wä­ren. In Ge­ris neu­em Quar­tier schies­sen näm­lich die Lo­ka­le wie die Pil­ze aus dem Bo­den. Und die meis­ten sind gut be­setzt, so­weit er das von aus­sen be­ur­tei­len kann.

Nach ein paar Wo­chen fängt er an, das ei­ne oder an­de­re der Lo­ka­le auf dem Nach­hau­se­weg auch von in­nen zu be­ur­tei­len. Nicht als Ab­trün­ni­ger, mehr als Trend-Scout. Viel län­ger wird man die Sze­ne, die hier vor sei­ner Haus­tür ent­st­steht, auch in sei­nen Krei­sen nicht mehr igno­rie­ren kön­nen. Dann wird er sich als Ken­ner outen.

Lan­ge ist kein En­de von Ge­ris Dop­pel­le­ben in Sicht. Die Sze­ne im In­dus­trie­quar­tier ist kein The­ma bei sei­nes­glei­chen. Und da­zu, es von sich aus an­zu­schnei­den, fehlt Ge­ri der Mut.

Ei­nes Abends trifft er Ro­bi Mei­li, als er an sei­ner Sta­ti­on aus dem Tram steigt. Ro­bi war im vor­de­ren Wa­gen, die Be­geg­nung ist nicht zu vermeiden.

„Ver­kehrst du jetzt auch hier?“ fragt Mei­li spöt­tisch. „Nein, nein“, stot­tert Ge­ri, „ich stei­ge hier nur um. Ich woh­ne jetzt näm­lich ausserhalb.“

Wäh­rend Ge­ri an der Hal­te­stel­le so tut, als war­te er auf sei­nen An­schluss, sieht er Ro­bi Mei­li im hell er­leuch­te­ten SOFORT! ver­schwin­den, ei­nem neu­eröff­ne­ten Eth­no-Ta­kea­way, in dem Kun­den die Ta­ke­ways gleich im Ste­hen es­sen und bei ein paar Glä­sern hän­gen blei­ben. Ihm schwant, dass er ei­nen Feh­ler ge­macht hat.

Er täuscht sich nicht. Schon ein paar Ta­ge spä­ter wird er im Fisch&Vogel Zeu­ge, wie Ro­bi Mei­li, Su­si Schläf­li und Carl Schnell das gas­tro­no­mi­sche Kon­zept des SOFORT! lo­ben. „Soll­test auch Mal rein­schau­en, auf dem Nach­hau­se­weg, Ge­ri“, rät ihm Mei­li und er­klärt den an­de­ren: „Ge­ri wohnt jetzt näm­lich aus­ser­halb.“

Viel­leicht hät­te Ge­ri in die­sem Mo­ment die Sa­che noch oh­ne gros­sen Ge­sichts­ver­lust rich­tig­stel­len kön­nen. Aber er tut es nicht. Und muss mit­an­se­hen, wie ei­ner nach dem an­de­ren aus sei­ner Cli­que den Le­bens­mit­tel­punkt ins neue Quar­tier ver­la­gert, in um­ge­bau­te Fa­brik­räu­me zieht und die Treffs der neu­en Um­ge­bung fre­quen­tiert. Mu­cho Gus­to, Fisch&Vogel und Schamp­Bar wer­den zu Ag­glo­treffs er­klärt und gemieden.

Ge­ri Wei­bel, der heim­li­che Pio­nier des neu­en Quar­tiers, hat noch kei­nen Weg ge­fun­den, wie er, oh­ne als Nach­äf­fer zu gel­ten, of­fi­zi­ell in die Woh­nung zie­hen könn­te, in der er schon so lan­ge wohnt. Vor­läu­fig muss er, wie je­der an­de­re Ag­glo auch, im­mer wenn es am schöns­ten ist auf die letz­te S‑Bahn in sei­nen Vor­ort spur­ten.  Und hof­fen, dass ihn nie­mand er­kennt, wenn er in sei­ne Loft schleicht.

×
Login

Passwort wiederherstellen

Member werden
Member werden für 60 Franken pro Jahr
Probezugang

Falls Sie einen Code besitzen, geben Sie diesen hier ein.

Gutschein

Martin Suter kann man auch verschenken.
Ein ganzes Jahr für nur 60 Franken.
Versandadresse: