Der Schweinsteiger Roman Element 9

Heiterer Heldenroman

Jo­chen Hie­ber ist ei­ner der meis­tre­spek­tier­ten Li­te­ra­tur­kri­ti­ker des deutsch­spra­chi­gen Raums. Wäh­rend 33 Jah­ren ar­bei­te­te er als Re­dak­teur im Feuil­le­ton der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung. Am sel­ben Tag wie „Ei­ner von euch“ ist sein neus­tes Buch „Mar­tin Wal­ser – Der Ro­man­ti­ker vom Bo­den­see “ bei wbg Theiss, Darm­stadt, erschienen.

Le­sen Sie hier, was er zu Mar­tin Suters bio­gra­fi­schem Ro­man über Bas­ti­an Schwein­stei­ger schreibt. Der Text stammt aus „Spiel­feld“, dem Mo­nats­ma­ga­zin des TSG Hof­fen­heim, für das Jo­chen Hie­ber als Fuss­ball­fan und ‑fach­mann re­gel­mä­ßig schreibt. 

Von Jo­chen Hieber

Spie­len als Be­ruf: In „Ei­ner von euch“ er­zählt der Schwei­zer Er­folgs­au­tor Mar­tin Su­ter das Le­ben des deut­schen Welt­meis­ters Bas­ti­an Schwein­stei­ger als mo­der­nes Mär­chen und zu­gleich als prä­zi­se Mi­lieu­stu­die. Das Gan­ze: mehr als lesenswert.

Früh­herbst 1989. In we­ni­gen Wo­chen wird die Ber­li­ner Mau­er fal­len, aber das ahnt in Ost wie West noch nie­mand. Erst recht nicht in der ober­baye­ri­schen 4.400-Seelen-Gemeinde Ober­au­dorf di­rekt an der deutsch-ös­ter­rei­chi­schen Gren­ze zu Ti­rol. In ih­rem Ober­au­dor­fer Wohn­zim­mer un­ter­hal­ten sich die Ehe­leu­te Mo­ni­ka und Fred Schwein­stei­ger viel­mehr über die Zu­kunft ih­res jün­ge­ren Soh­nes. Am 1. Au­gust 1990 wird sein sechs­ter Ge­burts­tag sein. Soll man ihn da­nach gleich ein­schu­len oder ihm er­lau­ben, den Ernst des Le­bens noch ein­mal für zwölf Mo­na­te hin­aus­zu­schie­ben? Mut­ter Mo­ni­ka ist für den frü­hest­mög­li­chen Schul­ein­tritt, sonst wer­de der Jun­ge „noch ver­spiel­ter“, als er es eh schon sei. Der Va­ter hält da­ge­gen: „Oder ein­fach noch bes­ser im Spie­len.“ Und er fügt hin­zu: „Viel­leicht wird das mal sein Beruf.“

Der knap­pe Satz steht auf ei­ner der ers­ten Sei­ten des Ro­mans „Ei­ner vor euch“, den der Schwei­zer Best­sel­ler­au­tor Mar­tin Su­ter, Jahr­gang 1948, über das Le­ben des gut drei­ein­halb Jahr­zehn­te jün­ge­ren Bas­ti­an Schwein­stei­ger ge­schrie­ben hat. Ob Freds Satz tat­säch­lich so ge­fal­len ist oder ob ihn Su­ter dem Va­ter phan­ta­sie­voll in den Mund legt, ist völ­lig un­er­heb­lich. Es ist je­den­falls das ge­wal­ti­ge, sich ganz und gar er­fül­len­de Pro­phe­ten­wort die­ses über wei­te Stre­cken klu­gen, la­ko­ni­schen und un­ter­halt­sa­men Buchs. Was im­mer Bas­ti­an Schwein­stei­ger auch wer­den und er­rei­chen wird – Welt­meis­ter 2014, Cham­pi­ons-Le­ague-Sie­ger 2013, acht­mal Deut­scher Meis­ter, sie­ben­mal DFB-Po­kal­sie­ger, ein­mal FA-Cup-Sie­ger, 781 Pflicht­spie­le zwi­schen 2001 und 2019, da­von ge­nau 500 für den FC Bay­ern: Ein Pro­fi und ein Fuß­bal­ler der Ex­tra­klas­se wird er im­mer erst in zwei­ter Li­nie sein. Zu­al­ler­erst wird er das vä­ter­li­che Wunsch- und Hoff­nungs­ora­kel mit Wirk­lich­keit fül­len: Er wird das Spie­len selbst zum Be­ruf ma­chen, pri­mär al­so kein Spie­ler, son­dern al­le­mal ein Spie­len­der sein und bleiben.

Oh­ne es selbst zu wis­sen, hat Bas­ti­an Schwein­stei­ger da­bei ei­nen der schöns­ten Sät­ze des gro­ßen Fried­rich Schil­ler be­wahr­hei­tet und be­folgt: „Der Mensch spielt nur“, no­tiert un­ser Li­te­ra­tur­klas­si­ker im Jahr 1795, „wo er in vol­ler Be­deu­tung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Von Bun­des­trai­ner Joa­chim Löw vor der WM 2010 in Süd­afri­ka zum „emo­tio­na­len Lea­der“ des Teams ge­adelt, ist Schwein­stei­ger der In­be­griff ei­nes Ho­mo lu­dens, da­mit ein exis­ten­ti­el­ler Spiel- und Spiele­mensch, der viel eher mit Lust, Freu­de und dem dar­aus re­sul­tie­ren­den Ehr­geiz als mit an­ge­streng­tem Leis­tungs­wil­len sei­ner na­tür­li­chen Be­ga­bung und ei­nem un­trüg­li­chen In­stinkt folgt.

„Ich le­se lie­ber tau­send Spie­le als ein Buch.“

Bas­ti­an Schweinsteiger

Er steht des­halb auch im vi­ta­len Kon­trast zum Ho­mo­fa­ber, dem grü­beln­den, ziel­ge­rich­tet pla­nen­den und schließ­lich zu­pa­ckend wie stra­te­gisch han­deln­den Ma­cher- und Männ­lich­keits­typ, den in sei­ner, dank des WM-Ti­tels von 2014 fi­nal ver­gol­de­ten Fuß­baller­ge­nera­ti­on viel eher Phil­ipp Lahm oder To­ni Kroos ver­kör­pern. Da­zu passt bes­tens, dass Bas­ti S., der vom ki­cken­den Laus­bu­ben „Schwei­ni“ zum (not­ge­drun­gen) er­wach­sen wer­den­den Fan-Idol („Schwein­stei­ger! Fuß­ball­gott!“) reift, von sich sel­ber sagt, „er le­se lie­ber tau­send Spie­le als ein Buch“. Na­tür­lich zi­tiert Mar­tin Su­ter die­sen Satz in sei­nem Fuß­bal­ler-Ro­man. Von psy­cho­lo­gi­schen, gar phi­lo­so­phi­schen Deu­tun­gen sei­nes Hel­den aber hält sich der Au­tor mit Be­dacht fern – Suters Schwei­zer Na­tu­rell ist je­dem geis­ti­gen Pa­thos al­ler­meist ab­hold. Das gilt auch für die Ro­ma­ne, die ihn be­rühmt ge­macht ha­ben, seit er nach Jahr­zehn­ten in der Wer­be­bran­che und im Jour­na­lis­mus 1997 mit der in den so­ge­nannt bes­se­ren Krei­sen spie­len­den Fa­mi­li­en- und Alz­hei­mer­sa­ga „Small World“ als Schrift­stel­ler de­bü­tier­te. Neun wei­te­re Ro­ma­ne sind in­zwi­schen ge­folgt, zu­dem sechs Kri­mis um den Dan­dy-De­tek­tiv Jo­hann Fried­rich von All­men, un­längst das Ibi­za-Aben­teu­er „All­men und der Koi“ (2019): Mit Hei­no Ferch in der Haupt­rol­le wur­den vier von ih­nen in­zwi­schen auch fürs Fern­se­hen ver­filmt. Su­ter ist ein Un­ter­hal­tungs­au­tor von ho­hen Gra­den mit wa­chem Ge­spür für Zeit­geist-The­men und ei­ner stu­pen­den sze­ni­schen Er­fin­dungs­ga­be. Er ist zu­min­dest be­son­ders gut, wenn er beim Fa­bu­lie­ren je­de Er­zähl­bot­schaft meidet.

„Ich will Wah­res mit fast Wah­rem vermischen.“

Mar­tin Suter

Das ge­lingt ihm im Schwein­stei­ger-Ro­man mü­he­los. Mehr noch: Im „Ei­ner von euch“ ver­bin­det er leicht­hin, da­bei wohl­kal­ku­liert und des­halb über­zeu­gend die tat­säch­li­chen bio­gra­phi­schen Sta­tio­nen sei­ner Haupt­fi­gur mit bei­läu­fig an­ge­deu­te­tem Zeit­ko­lo­rit, er­fri­schend ori­gi­nel­len Dia­lo­gen und ei­ner Fül­le pro­mi­nen­ter Cha­rak­te­re von Fe­lix Neu­reu­ther über Uli Hoe­neß und Franz Be­cken­bau­er bis zur mitt­le­ren Ewig­keits­kanz­le­rin An­ge­la Mer­kel, de­nen man al­le­mal auch so­fort ih­re Ro­man­e­xis­tenz abnimmt.

Er wol­le „Wah­res und fast Wah­res“ mi­schen, no­tiert Su­ter im knap­pen Vor­wort. Das löst er fa­bel­haft auch an der ser­bi­schen Ten­nis­spie­le­rin Ana Iva­no­vić ein, die Schwein­stei­gers gro­ße Lie­be wird, die er 2016 hei­ra­tet und mit der er in Chi­ca­go, der letz­ten Etap­pe als Fuß­ball­pro­fi, ei­ne Fa­mi­lie grün­det. Ana ist die zwei­te Haupt­fi­gur des Buchs, sehr zu Recht auch schon zu Zei­ten, in de­nen sie von Bas­ti­an S. noch nichts ahnt, ge­schwei­ge denn weiß.

Kei­ne Sor­ge: Al­le wich­ti­gen Schwein­stei­ger-Par­tien kom­men selbst­ver­ständ­lich auch im Ro­man vor –von den G‑­Ju­gend-Em­pha­sen in Ober­au­dorf bis zum „Spiel sei­nes Le­bens“ (am 8. Ju­li 2006 ge­gen Por­tu­gal), vom ver­schos­se­nen Elf­me­ter ge­gen Chel­sea über den Hel­den­auf­tritt im WM-Fi­na­le von Rio bis zum trä­nen­rei­chen Ab­schied in der Al­li­anz-Are­na im Au­gust 2018, bei dem der Welt­star sei­nen Fans glaub­haft ver­si­chern kann, er sei und blei­be „ei­ner von euch“. Die wirk­li­che Stär­ke von Suters Pro­sa-Epos aber liegt wo­an­ders: Es er­zählt Her­kunft und Auf­stieg ei­nes ein­fa­chen Men­schen un­se­rer Zeit als Syn­the­se aus Mär­chen und Mi­ra­kel, aber auch als ge­nau­es­te, da­bei em­pa­thi­sche Mi­lieu­stu­die des klein­bür­ger­li­chen Mit­tel­stands. Kon­kret ge­sagt: Die ein­zi­ge be­mer­kens­wer­te schu­li­sche Leis­tung („in der Kai­ser­schmarrn­prü­fung ei­ne glat­te Eins“) pas­siert eben­so Re­vue wie die Im­po­nier­ges­te des Neu­rei­chen („Pri­vat­jets star­ten, wann die Pas­sa­gie­re wol­len“). Ge­wiss, ein paar sti­lis­ti­sche Schwä­chen hat das Buch, ein, zwei Da­ten stim­men nicht – und ge­gen En­de hin ver­liert der Au­tor spür­bar die Lust am Aus­buch­sta­bie­ren der Schwein­stei­ger-Vi­ta. Aber das macht nichts. Im Gan­zen hat Mar­tin Su­ter ei­ne heu­ti­ge Fuß­bal­ler-Bio­gra­phie als hei­te­ren Hel­den­ro­man er­zählt. Das soll ihm erst ein­mal ei­ner nachmachen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. No­vem­ber 1989 fällt in Ber­lin die Mau­er. In Ober­au­dorf we­cken „Mum“ Mo­ni­ka und „Dad“ Fred ih­re Söh­ne To­bi­as und Bas­ti­an, um sie am welt­his­to­ri­schen Mo­ment teil­ha­ben zu las­sen. „Mau­er, dach­te Bas­ti, wie im Fuß­ball bei ei­nem Frei­stoß.“ Nur darf sie dort kei­nes­wegs fal­len. Aber der Fünf­jäh­ri­ge be­hält den Ge­dan­ken für sich, freut sich an der Freu­de der an­de­ren und schläft dann auf dem So­fa wie­der ein. War­um Suters Ent­schei­dung rich­tig war, kei­ne blo­ße Sport­ler­bio­gra­fie, son­dern ei­nen Ro­man zu schrei­ben, zeigt sich auch an die­ser schö­nen Poin­te. Sie mag zwar nur et­was „fast Wah­res“ auf den Punkt brin­gen. Aber sie er­zeugt ei­ne poe­ti­sche At­mo­sphä­re, die auf ei­ne hö­he­re Wei­se gar nicht falsch sein kann. Denn je­des Le­ben, al­so auch je­nes des Bas­ti­an S., ist ja im­mer auch ein Roman.

Jo­chen Hieber

wur­de am 30. Sep­tem­ber 1951 im schwä­bi­schen Aa­len ge­bo­ren. Es war der Deutsch­un­ter­richt am Schub­art-Gym­na­si­um der Stadt, der die Lei­den­schaft für die Li­te­ra­tur zu we­cken ver­stand. Vor­ab in Al­brecht Schö­nes ger­ma­nis­ti­schen Se­mi­na­ren an der Uni­ver­si­tät Göt­tin­gen fand der gym­na­sia­le Grund dann je­ne Er­wei­te­rung, die ab Mit­te der sieb­zi­ger Jah­re ei­ne stän­di­ge Mit­ar­beit als Li­te­ra­tur­kri­ti­ker in der Wo­chen­zei­tung „Die Zeit“ und als Kul­tur­kor­re­spon­dent der „Süd­deut­schen Zei­tung“ mög­lich mach­te. Re­dak­teur im Feuil­le­ton der Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung seit 1. April 1983. 1994 er­schien sein Buch „Wör­ter­hel­den, Land­ver­mes­ser. Auf­sät­ze und Kri­ti­ken“. 1995 gab er den Band „Lie­ber Mar­cel. Brie­fe an Reich-Ra­ni­cki“ (er­wei­ter­te Neu­aus­ga­be 2000) her­aus, 1996 wur­den Tho­mas Manns „Bud­den­brooks“ in ei­ner von ihm kom­men­tier­ten Aus­ga­be aufs Neue ver­öf­fent­licht. Zwi­schen 2001 und 2005 mo­de­rier­te er im Fern­se­hen des MDR die Bü­cher­sen­dung „Wei­ma­rer Sa­lon“, von 2003 bis 2006 war er als Kul­tur­be­auf­trag­ter für die Fuß­ball-WM in Deutsch­land tä­tig. Im Mai 2010 er­hielt er den Hes­si­schen Ver­dienst­or­den am Ban­de, in ers­ter Li­nie für die Er­fin­dung der Rei­he „Nid­da li­te­ra­risch“, die es seit 1992 gibt und die er bis 2009 lei­te­te. Seit 2016 als frei­er Au­tor wei­ter­hin für die F.A.Z. tä­tig. Ver­hei­ra­tet, vier Kin­der. Frei­er Au­tor.

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