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Ein Ausflug nach Vulpera

Ei­ne schwarz­ro­man­ti­sche Er­zäh­lung von Mar­tin Suter für das Buch „Kei­ne Os­ter­g­rüs­se mehr!“ von Lois He­chen­blaik­ner, An­drea Küh­ba­cher und Rolf Zol­lin­ger, das An­fang April in der Edi­ti­on Pa­trick Frey er­scheint.

©Jo­hann Feu­er­stein Fo­to­stif­tung

„Mit ein­und­neun­zig darf man über­all rau­chen“, sagt er und zün­det sich ei­ne Na­zio­na­li an.

Der Fah­rer nickt und drückt auf den Knopf, um das Fens­ter ne­ben sei­nem Fahr­gast ei­nen Spalt­breit zu öff­nen. Fri­sche Herbst­luft pfeift jetzt in den Mer­ce­des her­ein.

„Schon ein­und­neun­zig?“, wun­dert sich der Fah­rer. „Das sieht man dir nicht an.“ Sie du­zen sich, seit sie her­aus­ge­fun­den ha­ben, dass sie bei­de aus der Um­ge­bung von Li­vi­gno stam­men, oder Li­vign, wie sie es auf Lom­bar­disch nen­nen.

Der Fahr­gast hat den Dia­lekt ver­ges­sen. Er spricht Ita­lie­nisch mit ei­nem leich­ten eng­li­schen Ak­zent. Er hat über drei­ßig Jah­re in der Di­rek­ti­on der Clear Ho­tel Group auf der gan­zen Welt ver­bracht und lebt seit sei­nem Ru­he­stand 1994 in Aspen, Co­lo­ra­do.

Ein paar fe­der­leich­te Wol­ken schwe­ben im hell­blau­en Him­mel, in den grü­nen Berg­flan­ken leuch­tet das Gold der Lär­chen, und die Son­ne spie­gelt sich sil­bern im Inn.

Kurz vor Scuol geht der Fah­rer vom Gas, biegt in die Ab­zwei­gung nach Vul­pe­ra ein, fährt auf die Brü­cke über den Inn zu und über­quert den Fluss. Nach ein paar Kur­ven folgt die Stra­ße wie­der dem Ufer und führt am al­ten Frei­bad vor­bei.

Ec­co qua“, sagt der Fahr­gast.

„Hier?“, wun­dert sich der Fah­rer und hält. Sie ste­hen vor ei­ner klei­nen Park­an­la­ge. Ein paar Bäu­me, ein gro­ßer run­der Brun­nen, ein paar guss­ei­ser­ne Säu­len oh­ne Funk­ti­on und, et­was ver­bor­gen, ein gro­ßes Cha­let, sonst nichts.

Der Fah­rer hilft dem al­ten Mann aus dem Ta­xi und in den et­was zu gro­ßen Ka­mel­haar­man­tel. Er beugt sich noch ein­mal über den Rück­sitz und reicht ihm sei­nen Geh­stock. Er ist neu und hat die In­schrift ein­ge­brannt: „Gruß aus dem Ober­enga­din.“

„Ich ha­be dei­nen Na­men ver­ges­sen“, sagt der Fahr­gast.

„Gi­an­ni.“

„Ich Fla­vio.“ Er blickt auf die Arm­band­uhr, die sehr lo­se sein Hand­ge­lenk um­fängt. Ei­ne Vin­ta­ge Ro­lex Air-King mit schwar­zem Zif­fer­blatt.

„In ei­ner Stun­de, al­so um sechs Uhr zwölf.“

„Ich wer­de hier sein.“Gianni öff­net al­le vier Wa­gen­tü­ren, um den Rauch­ge­ruch aus dem Ta­xi zu ver­trei­ben. Dann sieht er Fla­vio nach, der lang­sam in die Rich­tung der guss­ei­ser­nen Säu­len hum­pelt.

*

©Jo­hann Feu­er­stein Fo­to­stif­tung

Als er die­se Säu­len zum ers­ten Mal ge­se­hen hat­te,