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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Der kleine Wetterfrosch

Das ist ei­ne drei­tei­li­ge Busi­ness Class-Ko­lum­ne aus dem Fe­bru­ar 2001, die wir Ih­nen hier am Stück präsentieren.

Und du bist si­cher, dass die kei­ne Kin­der ha­ben?” fragt Ruth Stock­mann, als sie schon bei­na­he aus der Tür sind. Sie sind bei Weid­lers ein­ge­la­den, ei­ne hier­ar­chi­sche Mes­al­li­ance son­der­glei­chen. Der Mann ist zwei Stu­fen un­ter Stock­mann, aber von ei­ner un­nach­ahm­li­chen Hartnäckigkeit.

”Doch”, sagt Stock­mann, ”eins.”

Ruth bleibt ste­hen. ”Und war­um sagst du mir das nicht?”

”Du hast mich nicht gefragt.”

”Na­tür­lich ha­be ich dich ge­fragt. Du hast nicht zu­ge­hört. Was willst du dem jetzt mitbringen?”

”Ich? Nichts.”

”Ich kom­me nicht mit lee­ren Händen.”

”Das nennst du lee­re Hän­de?” Stock­mann stemmt den drei Ki­lo schwe­ren Blu­men­strauß in die Höhe. 

Im Zim­mer von Fer­di, der ge­ra­de in der Re­kru­ten­schu­le ist, su­chen sie nach et­was Brauchbaren.

”Bub oder Mäd­chen?” fragt Ruth. 

”Kei­ne Ah­nung, such et­was Geschlechtsneutrales.”

„Al­ter?”

”So um die zehn.”

Sie sto­ßen auf ein klei­nes Buch, noch in der Ori­gi­nal­ver­pa­ckung ver­schweißt. Der klei­ne Wet­ter­froschEin­füh­rung in die Wet­ter­kun­de für jun­ge Me­teo­ro­lo­gen. Wahr­schein­lich hat es vor Jah­ren ein Gast für Fer­di mitgebracht.

Erst als Ruth es in ein für Stock­manns Ge­schmack et­was zu weih­nacht­li­ches Ge­schenk­pa­pier ver­packt hat, kön­nen sie aus dem Haus. Sie kom­men fast ei­ne hal­be Stun­de zu spät.

Das Kind heißt Pa­trik, ist fünf­zehn und über­nach­tet an die­sem Abend bei ei­nem Freund. Als es am nächs­ten Tag das Päck­chen öff­net, sagt es ”Hä? Der klei­ne Wet­ter­frosch?” und legt das Buch ins Ge­stell zu den an­de­ren un­brauch­ba­ren Gastgeschenken.

”Ich wä­re froh, wenn du Stock­manns ein paar Dan­kes­zei­len schrei­ben wür­dest”, sagt Weid­ler sei­nem Sohn beim Sonntagsbrunch.

”Wer sind Stock­manns?”, kaut Patrik.

”Die, die dir das Me­teo­ro­lo­gie-Buch ge­schenkt haben.”

”Den klei­nen Wet­ter­frosch?” Pa­trik lä­chelt spöt­tisch. Da­mit ist das The­ma fürs Ers­te erledigt. 

Kurz dar­auf, bei ei­ner für Weid­ler nicht ganz zu­fäl­li­gen Be­geg­nung im Lift, sagt er zu Stock­mann: ”Mein Sohn ist fas­zi­niert von Ih­rem Meteorologiebuch.”

”Freut mich, ein in­ter­es­san­tes Ge­biet, bin selbst ein we­nig ein Wet­ter­frosch,” ant­wor­tet Stock­mann, um die Zeit bis zum vier­ten Stock zu über­brü­cken, wo Weid­ler aus­stei­gen muss. 

In sei­nem Bü­ro grü­belt Weid­ler über die Trag­wei­te von Stock­manns Ge­ständ­nis. Wenn die­ser ein Hob­by­me­teo­ro­lo­ge ist und sei­nem Sohn ein Buch über Me­teo­ro­lo­gie schenkt, dann muss das ei­ne Be­deu­tung ha­ben, die weit über das üb­li­che Ver­le­gen­heits­mit­bring­sel für die Kin­der der Gast­ge­ber hin­aus­geht. Viel­leicht will er über Pa­trik ei­ne pri­va­te ge­mein­sa­me Ebe­ne mit ihm schaffen.

Spät in die­ser Nacht er­wacht Ve­ra Weid­ler. Ihr Mann ist nicht im Bett. Sie fin­det ihn schla­fend auf dem So­fa im Wohn­zim­mer. Auf der Brust den klei­nen Wetterfrosch.

2

Wes­halb soll­te Stock­mann mei­nem Sohn denn sonst den klei­nen Wet­ter­frosch mit­brin­gen, wenn nicht, um ei­ne neue Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ebe­ne mit mir zu fin­den?” fragt Weid­ler sei­ne Frau beim Früh­stück. Er ist et­was spät dran, weil er die hal­be Nacht den klei­nen Wet­ter­frosch stu­diert hat.

”Zum Bei­spiel, weil er kei­ne bes­se­re Idee hatte.”

”Da kennst du Stock­mann schlecht. Der Mann ist sehr krea­tiv. Kommt da­zu, dass er selbst Hob­by­me­teo­ro­lo­ge ist.”

”Ich fin­de es trotz­dem et­was viel ver­langt, wenn du Pa­trik zwin­gen willst, das Büch­lein zu stu­die­ren. Er ist über fünfzehn.”

”Na und? Ich bin über vier­zig und ha­be nicht al­les verstanden.”

Ve­ra Weid­ler ver­beisst sich ei­nen Kommentar.

”Ich fin­de, es wä­re nicht zu viel ver­langt, wenn der jun­ge Mann auch ei­nen Bei­trag zum Fort­kom­men sei­nes Va­ters leis­ten wür­de. Das acht­hun­dert­fän­ki­ge Snow­board hat er auch ge­nom­men.” Mit die­sen Wor­ten und ei­nem hal­ben Crois­sant im Mund ver­lässt Weid­ler das Haus.

Die Dis­kus­si­on ist oh­ne­hin über­flüs­sig, denn Pa­trik Weid­ler ge­hört nicht zu den jun­gen Men­schen, die sich von ih­ren Vä­tern nö­ti­gen las­sen, den klei­nen Wet­ter­frosch zu studieren.

Aber Weid­ler denkt nicht dar­an, sich von ei­nem Halb­wüch­si­gen – und sei es sein ei­ge­ner Sohn – die Chan­ce ent­ge­hen zu las­sen, mit Stock­mann auf ei­ner aus­ser­ge­schäft­li­chen Ebe­ne zu kom­mu­ni­zie­ren. Als er ihm das nächs­te Mal (auch dies­mal nicht ganz zu­fäl­lig) be­geg­net, be­merkt er: ”Die­se Cu­mu­lus­fel­der ha­ben mei­nem Sohn Pa­trik heu­te früh gar nicht gefallen.”

Stock­mann schaut ihn der­ma­ßen ver­ständ­nis­los an, dass Weid­ler nach Bü­ro­schluss bei ei­ner Buch­hand­lung her­ein­schaut und et­was über Me­teo­ro­lo­gie für Fort­ge­schrit­te­ne kauft.

Es dau­ert ein paar Ta­ge, bis sich für ihn wie­der die Ge­le­gen­heit er­gibt, mit Stock­mann auf der neu­en Ebe­ne zu kom­mu­ni­zie­ren. Es ist ein ver­han­ge­ner Tag, graue Wol­ken rei­chen bei­na­he bis zu den Fens­tern des Per­so­nal­re­stau­rants im ach­ten Stock. Weid­ler fängt Stock­mann auf dem Weg zum –  für ihn vor­läu­fig noch nicht zu­gäng­li­chen – Di­rek­ti­ons­re­stau­rant ab.  Er deu­tet aus dem Fens­ter und sagt: ”Stra­to­cu­mu­lus Sc, ein ge­al­ter­tes Tief­druck­ge­biet“, ver­mu­tet mein Sohn Pa­trik. Ok­klu­si­ons­front mit Kaltfrontcharakter.”

Stock­mann starrt ihn un­gläu­big an.

”Steht na­tür­lich nicht im klei­nen Wet­ter­frosch”, er­klärt Weid­ler stolz. ”Pa­trik ist da­bei, sich ei­ne me­teo­ro­lo­gi­sche Bi­blio­thek an­zu­schaf­fen. Auf wes­sen Kos­ten kön­nen Sie sich ja den­ken. Ich glau­be, er wä­re ganz froh, wenn Sie ihm ge­le­gent­lich ein paar Tipps ge­ben könnten.”

Im­mer, wenn Weid­ler Stock­mann be­geg­net, zi­tiert er sei­nen Sohn zur ak­tu­el­len Wet­ter­la­ge. Ei­nes Ta­ges  – Kalt­front, dun­kel­graue Wol­ken­bän­ke mit ein­ge­la­ger­ten Cu­mu­lo­nim­ben – wird er zu Stock­mann ge­ru­fen. ”Herr Weid­ler”, er­öff­net der ihm, ”wir ver­an­stal­ten beim Ro­ta­ry Club ei­ne klei­ne Lunch-Vor­trags­rei­he jun­ger, wis­sen­schaft­lich in­ter­es­sier­ter Men­schen. Glau­ben Sie, so et­was wür­de Ih­ren jun­gen Me­teo­ro­lo­gen interessieren?”

”Und wie!” jauchzt Weidler.

3

Am Abend führt Weid­ler mit sei­nem Sohn ein Ge­spräch un­ter vier Au­gen. ”Erik”, be­ginnt er, ”wenn ich dir sa­ge, was heu­te pas­siert ist, wirst du es nicht glauben.”

Ge­nau­so ver­hält es sich dann auch: Weid­ler sagt Erik, dass sein Chef Stock­mann will, dass er im Ro­ta­ry Club ei­nen Vor­trag über Me­teo­ro­lo­gie hält, und Erik glaubt es ihm nicht. ”Ich ha­be doch kei­nen blas­sen Schim­mer von Me­teo­ro­lo­gie” ist sein Hauptargument.

”Aber ich”, er­wi­dert Weidler. 

”Dann hal­te doch du den Vortrag.”

”Es han­delt sich um ei­ne Lunch-Vor­trags­rei­he jun­ger, wis­sen­schaft­lich in­ter­es­sier­ter Men­schen. Ich bin nicht jung.”

”Und ich nicht wis­sen­schaft­lich interessiert.”

Es folgt ei­ne län­ge­re Dis­kus­si­on, die in Weid­lers Aus­ruf gip­felt: ”Ein Vor­trag vor dem Ro­ta­ry Club ist ei­ne un­glaub­li­che Chan­ce für ei­nen Fünfzehnjährigen!” 

”Als ob es dir um mich gin­ge!”, gibt Erik zu­rück, ”Dir geht es nur um Dei­ne Scheißkarriere!” 

Weid­ler ent­schließt sich zur Re­pres­si­on. Er streicht sei­nem Sohn das Ta­schen­geld. ”Viel­leicht sen­si­bi­li­siert dich das für den Ein­fluss mei­ner Scheiß­kar­rie­re auf dei­ne per­sön­li­che Si­tua­ti­on, und för­dert das dein Ver­ständ­nis für die Ge­set­ze der Marktwirtschaft.”

Be­reits nach zwei Ta­gen lenkt Erik ein. ”Ich hal­te den Vor­trag”, er­öff­net er sei­nem Va­ter, ”aber du musst ihn schrei­ben.” Weid­ler hat­te oh­ne­hin nicht vor­ge­habt, die­sen Teil des Pro­jek­tes ei­nem Fünf­zehn­jäh­ri­gen zu über­las­sen. Mit der zwei­ten For­de­rung tut er sich hin­ge­gen schwe­rer: ”Und ich will tau­send Stutz.”

Weid­ler glaubt, nicht recht ge­hört zu ha­ben: ”Tau­send Fran­ken für ei­nen Vor­trag, den ich dir schreibe?”

”Ge­set­ze der Markt­wirt­schaft”, er­klärt Erik.

Falls Weid­ler sich von sei­ner Frau Ve­ra in die­ser Fra­ge Un­ter­stüt­zung ver­spro­chen hat, hat er sich ge­täuscht. Im Ge­gen­teil: Nach Rück­spra­che mit ihr wird er den Ver­dacht nicht los, sie ste­cke hin­ter der Forderung. 

Weid­ler gibt klein bei. Er ver­bucht das Ho­no­rar als In­ves­ti­ti­on in sei­ne Kar­rie­re. Zu­sam­men mit den Fr. 657.45 für Bü­cher, Lehr­ma­te­ri­al, Farb­ko­pien und Fo­li­en. Er ar­bei­tet meh­re­re Näch­te, bis ihn Ve­ra mit der Dro­hung ins Bett holt: ”Wenn du dir we­gen dem klei­nen Wet­ter­frosch ei­nen Herz­in­farkt holst, pfle­ge ich dich nicht.”

Am Ran­de ei­ner er­wei­ter­ten Ka­der­sit­zung ge­lingt es Weid­ler, Stock­mann ver­trau­lich zu­zu­rau­nen ”Mein Sohn steckt über bei­de Oh­ren in sei­nem Vortrag.”

Aber die Pro­ben mit Erik sind ei­ne Ka­ta­stro­phe. Je­des Kind merkt, dass er kei­ne Ah­nung hat, wo­von er spricht. Als er an der drit­ten Pro­be noch im­mer nicht ”Be­nard­kon­vek­ti­on” sa­gen kann, brüllt Weid­ler: ”Üben, üben, üben, bis es sitzt!”

An die nächs­te Pro­be kommt Erik als klei­ner Wet­ter­frosch mit grü­nen Haaren.

Weid­ler sieht kei­nen an­de­ren Aus­weg, als den Vor­trag stell­ver­tre­tend für sei­nen plötz­lich er­krank­ten Sohn zu hal­ten. Er wird ein vol­ler Erfolg. 

Beim Schluss­ap­plau­se mur­melt Stock­mann zu sei­nem Tisch­nach­barn: ”So ein Trot­tel und so ein ge­schei­ter Sohn.”

22.2.01 – 14.3.22

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