Jürg Ramspecks Laudatio
Ein schwüler Tag Anfang September 1997. Die Luft im voll besetzten Theater am Neumarkt in Zürich ist stickig. Hinter dem Vorhang des Bühnenprospekts steht Martin Suter und linst ab und zu durch ein kleines Loch im Stoff. In der Mitte der Hauptbühne sitzt Jürg Ramspeck, der Chefredakteur der ehemaligen Weltwoche, an einem kleinen Tisch und wartet, bis sich der Hauptvorhang vor ihm öffnet. Martin Suter hofft, dass es noch lange dauern wird. Es ist seine erste Lesung, und er ist schrecklich nervös. Immer wieder wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Dabei bemerkt er, dass seine Hände zittern. Er nimmt sich vor, auf keinen Fall zu versuchen, Wasser aus dem Glas auf dem kleinen Tischchen zu trinken. Plötzlich ebbt das Gemurmel im Zuschauerraum ab, und ein höflicher Applaus steigt. Jürg Ramspeck liest seine Laudatio. Und als er geendet hat, ist der Applaus nicht mehr nur höflich. Und Suter noch nervöser. So hoch hat Ramspeck die Latte gelegt:



Meine Damen und Herren
Es ist mir ein grosses Vergnügen, den Auftritt eines ganz neuen Schweizer Schriftstellers ansagen zu dürfen.
Besonders, weil dieser ganz neue Schweizer Schriftsteller ein Buch geschrieben hat, das alle Leute, die ich kenne, schon gelesen haben, bevor es erschienen ist.
Und weil alle Leute, die es gelesen haben, inklusive ich selbst, die Meinung bekundet haben, sie hätten ein brillant geschriebenes, hochintelligentes Buch mit einem phänomenalen Plot gelesen. Welcher Meinung auch einige Kritiken Ausdruck gaben, die vor dem Erscheinen des Buches in Zeitungen erschienen sind.
Ich kann mich deshalb relativ kurz fassen und mich voll auf das merkwürdige Phänomen konzentrieren, dass dieser ganz neue Schweizer Schriftsteller – ehe also sein Opus I in den Buchhandlungen aufliegt – bereits ein arrivierter Schriftsteller ist.
Sicher ist es zum Beispiel ein vom Diogenes-Verlag hinterlistig gelenkter Zufall, dass diese Buchpremiere hier im Neumarkt-Theater stattfindet. Die Absicht ist mit den Händen zu greifen: Hier wird bereits diskret der Verkauf der Nebenrechte eingefädelt. Ich sehe „Small World“ irgendwie workshopartig, aus der Ensemble-Diskussion heraus entwickelt, ein brandaktuelles Thema gesellschaftlich relevant aufgreifend, schon demnächst auf dieser Bühne.
Falls nicht die Filmregisseure unter Ihnen Volker Hesse zuvorkommen – und einer von Ihnen sich die dramatischen Exklusivrechte ersteigert. Ich sehe „Das Kabinett des Dr. Alzheimer“ mindestens schon auf einem deutschen Privatsender.
Ja Alzheimer. Das ist in unserem Zusammenhang zweifellos ein wichtiges Stichwort. Da Sie „Small World“ ja schon gelesen haben, wissen Sie natürlich warum. Nun kann mir aber niemand weismachen, der Diogenes-Verlag habe diese heutige Buchpremiere nicht akkurat auf den Tag terminiert, an dem in Deutschland – endlich – der 1. medizinische Alzheimer-Kongress beginnt. Da werden selbstverständlich klug auch Synergien genutzt.
Nun möchte ich aber nicht behaupten, der Autor habe nicht auch selber etwas zum Erfolg seines Buches beigetragen, der vor seinem Erscheinen bereits feststeht. Er hat es schliesslich, wie wir aus der Presse erfahren, gleich zweimal geschrieben, weil die erste Fassung seiner Frau nicht gefallen hat. Soviel Gattenliebe in einem Zeitalter zerfallender Ehemoral muss ja belohnt werden.
Dann hat der Autor – anders als die meisten Schriftsteller, die es schon als Jünglinge in die Literatur drängt – vernünftigerweise erst mal den Beruf eines Werbetexters gelernt. Es ist, seit Wedekind, sicher das noblere Schicksal, als Werbetexter zu beginnen und als Schriftsteller zu enden, als umgekehrt. Jedenfalls ist mir kein Fall bekannt, in dem sich ein gescheiterter Werbetexter, bloss um seinen nackten Lebensunterhalt zu bestreiten, zähneknirschend herablassen musste, Romane auf Diogenes-Niveau zu schreiben.
Weitere Erfahrungen, ehe er zu seinem ultimativen Leistungsbeweis ausholte, hat der Autor in den Bereichen Kleinkunst, Fernseh-Drehbuch und Gebrauchsliteratur gesammelt. Es ist nicht zu übersehen, wie er in sich das Pointensetzerische, das Dialogische und das Milieukritische systematisch auf das Ziel hin entwickelt hat, dereinst ein milieukritisches Werk zu schaffen, das unter anderem durch seine pointierten Dialoge besticht. Man kann ihm durchaus nachsagen, dass er mit Talenten verschwenderisch bedacht ist; aber man kann ihm nicht nachsagen, dass er seine Talente unbedacht verschwendet.
Man wird mir erlauben, zur Sparte „Gebrauchsliteratur“, unseren Autor betreffend, ein paar privatere Worte zu sagen. Er schreibt ja in der „Weltwoche“ seit fünf Jahren die wöchentliche Kolumne „Business Class“, für deren Drucklegung ich kraft verschiedener Ämter die längste Zeit endverantwortlich war. Einmal von der branchenunüblichen Zuverlässigkeit abgesehen, mit welcher uns der Autor seine Beiträge sprachfehlerlos, zeilengenau und termingerecht selbst aus Weltgegenden, die wir uns als postalisch unterentwickelte Urwälder vorstellen, übermittelte, empfand ich seine Kolumne stets als eine enorme Entlastung meiner beruflichen Tätigkeit. Denn sie enthob mich Woche für Woche der quälenden Verpflichtung, zum Thema Wirtschaft eventuell doch auch noch einen eigenen Einfall zu haben. Ich habe das jeweils mit folgenden Worten um mich gestreut: Egal, was wir in der nächsten „Weltwoche“ über die Wirtschaft bringen – in der „Business Class“ steht es sowieso viel genauer. Und Gottseidank auch noch viel lustiger.
Jetzt aber zurück zu „Small World“. Alle Personen, denen ich in den letzten vier, fünf Wochen begegnet bin und die das Buch, wie gesagt, bereits gelesen haben, weil sie beim Diogenes-Verlag auf der Empfängerliste für Voraus-Exemplare figurieren, waren von ihm an sich total begeistert. Sie haben mich aber ausnahmslos alle gefragt, ob vielleicht ich ihnen erklären kann, warum es so heisst.
Ich habe auf diese Frage bisher nichts wirklich Stichhaltiges erwidern können. Nach längerer meditativer Versenkung in die Titelseite des Schutzumschlages bin ich aber auf eine Vermutung gestossen: Entweder wollte Daniel Keel, dass der Roman so heisst, oder der Gestalter des Schutzumschlages hat nachgewiesen, dass die zehn Buchstaben von „Small World“ – kursiv und im gleichen Schriftgrad – genau unter die elf Buchstaben passen, aus denen der Name des Autors besteht. Damit muss ich diesen Namen schon aus typografischen Gründen jetzt endlich nennen – und ankündigen, dass sein Träger im nächsten Augenblick die Bühne betreten und Ihnen aus seinem Buch zweifellos Ihre Lieblingsstellen vorlesen wird: … Martin Suter!