Neuenschwanders Vision
Gestern, da hatte Neuenschwander eine Vision. Er sass im Flugzeug und döste. Und als er die Augen öffnete, da lag er in einem ausladenden Fauteuil in der ersten Klasse und vor ihm stand mit schweren goldenen Achselpatten – der Kapitän. Und fragte: „Everything okay, Mr. Neuenschwander?“
Und als Neuenschwander darauf knapp aber freundlich nickte, verschwand der Kapitän im Cockpit und die Purser kam und erkundigte sich: „Anything I can do for you, Mr. Neuenschwander?“ Und er bestellte ein Mineralwasser ohne Kohlensäure, denn er musste einen klaren Kopf haben für die Aufgaben, die seiner harrten.
Und während die Maschine ihn aus einem der Finanzplätze der Welt zurücktrug wurde alles dort unten so klein und unbedeutend, dass er ein paar schwierige, lang aufgeschobene Entscheidungen fällen konnte, ehe er das Wall Street Journal zur Hand nahm. Und dort, in der rechten Spalte, sah er sein, Neuenschwanders, Porträt und einen Text, der ihn wohl wieder einmal lobte, so sehr interessierte es ihn nun auch wieder nicht.
Und als die Maschine gelandet war, und die Purser ihm sein Jacket gebracht, und der Pilot ihm einen schönen Nachmittag gewünscht, und die Airport-Limousine ihn zum Terminal gebracht, und der Zöllner ihn durchgewunken hatte, gab er den bereitstehenden Journalisten ein paar geschliffene Antworten, ehe er sich von Maeder, seinem Fahrer, zum Wagen schleusen liess.
Und als er sich, zurückgelehnt im Fonds der Firmenlimousine zum Hauptsitz chauffieren liess, sagte er zu Maeder: „Seit wann regnet es?“ Und als Maeder antwortete: „Seit gestern ununterbrochen“, versetzte er „Verrückt, dieses Wetter“, zum Zeichen dafür, dass er trotz seiner Position den Draht zum einfachen Mann nicht verloren hat.
Und als er den Empfang betrat, sah er gerade noch, wie die Empfangsdame den Hörer auflegte und er wusste, sie hat der Führungsetage durchgegeben: „Er kommt.“
Und als der Lift kam, stand wie immer zufällig Seebacher drin und nützte die zwölf Stockwerke für eine kleine, durchschaubare Intrige.
Und als er sein Vorzimmer betrat, stand dort Frau Geppert mit frisch nachgezogenen Lippen und den dringlichsten Pendenzen.
Und als er das grosse Sitzungszimmer betrat, verstummte die vollständig versammelte Konzernleitung.
Und als er seine entrückt über den Wolken gefällten Entscheidungen bekanntgab, herrschte andächtige, ehrfürchtige Stille.
Und als er die Sitzung aufhob, hatte aber auch der Hinterste und Letzte wieder ein Ziel vor Augen.
Und als er seiner Frau mitteilte, es werde etwas später, wurde er von der Haushälterin ins Hallenbad verbunden.
Und als er bei der Vorbereitung der kommenden Woche mit Frau Geppert stöhnte: „Geht denn gar nichts ohne mich?“, da schaute sie ihm ernst in die Augen und sagte aufrichtig: „Nein, Herr Neuenschwander.“
Und als auch Frau Geppert gegangen war, und er am Fenster seines Büros auf die Lichter des Gebäudekomplexes starrte, die sich in den Pfützen spiegelten, als er zuschaute, wie nach und nach die hellen Vierecke der Fenster verlöschten, wie die Scheinwerfer der letzten Autos vom Parkplatz strichen, wie die Rücklichter auch der Pflichtbewusstesten in der Ausfahrt verglühten, da fiel sein müder Blick auf vierzehn blaue Neonbuchstaben hoch über der Konzernzentrale: NEUENSCHWANDER.
Es soll bitte niemand mehr sagen, unseren Managern fehle es an Visionen.
Einmal erschienen am 1.6.95