Die Supernova
Es ist nicht so, dass jedes neue Gesicht, das in der SchampBar auftaucht Aufsehen erregt. Das Lokal ist gut besucht, Passantenlage. Auch wenn ein neues Gesicht zwei, dreimal wiederkommt, wird davon nicht gross Notiz genommen. Erst wenn es sich länger hält kommt es vor, dass die Extrovertierteren unter den Stammgästen sich gelegentlich zu einem Nicken herbeilassen, so dosiert, dass es nicht als Fraternisieren missverstanden werden kann. Denn bevor man den Aufwand betreibt, sich auf neue Leute einzulassen, sollte man die Gewissheit haben, dass sie sich eine Weile halten.
In diesem Licht betrachtet ist Ralph eine absolute Ausnahmeerscheinung. Er kommt eines Abends herein, lehnt sich an die Bar, bestellt einen Ouzo (einen Ouzo?) und schaut sich spöttisch um. Ein schmächtiger, bleicher Jüngling im Pensionierten-Lumber lehnt an der Bar, trinkt Ouzo und schaut sich spöttisch in der SchampBar um! Wie einer, der von einer langen Reise in sein Dorf zurückkommt und alles noch genau gleich antrifft wie damals.
Auch eine Art, seine Unsicherheit zu überspielen, denkt Geri. Als er das nächste Mal hinschaut, spricht das Babyface mit Charly. Wurde Zeit, dass er lernt, sich wie ein Barman zu benehmen, denkt Geri. Mit mir hat Charly wochenlang nicht gesprochen.
Als er wieder hinschaut, ist der Fremde mit Freddy Gut ins Gespräch vertieft. Ach so, ein Verwandter von Freddy, denkt Geri. Einen anderen Grund kann er sich nicht vorstellen, dass dieser mit einem im Pensionierten-Lumber spricht. In Stylingfragen ist Freddy heikel.
Am nächsten Tag ist das Milchgesicht bereits da, als Geri die SchampBar betritt. Es lehnt wieder an der Bar, wieder mit einem Ouzo, und schaut Geri mit dieser spöttischen Herausforderung an. Wie wenn er erwarten würde, von ihm gegrüsst zu werden.
Geri denkt nicht daran. Er setzt sich an den Nischentisch mit dem „Reserviert“-Schild. Ein Privileg der langjährigen Habitués. In kurzen Abständen treffen Robi Meili, Susi Schläfli und Carl Schnell ein. Keiner setzt sich an den Nischentisch, alle gehen sie an die Bar. Nach kürzester Zeit sind sie in ein Gespräch mit dem Knaben verwickelt. Sie scheinen es lustig zu haben.
Vielleicht, denkt Geri, war es ein Fehler, ihm nicht zuzunicken. Es wäre ja an ihm, dem Alteingesessenen gewesen, dem Neuen das Gefühl zu geben, er sei willkommen. Wieso soll es jedem neuen Gesicht so gehen wie ihm, der wochen‑, ja monatelang darum kämpfen musste, beachtet zu werden. Der, wenn er ehrlich ist, noch heute immer wieder darum kämpfen muss.
An den Nischentisch hätte er ihn nicht winken können, zu grosses Sakrileg. Aber er stellt sich vor, wie es gewesen wäre, wenn er einfach auf den jungen Mann zugegangen wäre und ihn gefragt hätte „Was trinkst du da?“ Oder mit sonst einer lockeren Bemerkung das Eis gebrochen hätte. Er wäre mit dem Neuen bereits an der Bar gestanden, wenn die anderen gekommen wären, und er wäre es gewesen, der dem Debütanten das Entree verschafft hätte.
Er könnte sich ohrfeigen, dass er sich nicht wie sonst immer eine Zeitung genommen hat. Mit einer Zeitung kann man die Situation abschätzen während man vortäuscht, sich noch rasch à jour zu bringen, bevor man zum gesellschaftlichen Teil übergeht. Er hätte dann die Zeitung angewidert weglegen und sich ganz ungezwungen zu den anderen gesellen können.
Am nächsten Abend geht Geri direkt an die Bar. The new kid ist nicht da. Erst als Geri schon bestellt hat – einen Ouzo, was er sogleich als eventuell doch etwas übertrieben bereut – bemerkt er ihn. Er sitzt mit Freddy Gut und Susi Schläfli am Nischentisch. Und er Idiot ist grusslos an ihnen vorbeigegangen. Wie ein xenophober Spiesser, der Angst um seine Privilegien hat.
Geri verbringt noch eine halbe Stunde an der Bar und muss mitansehen, wie auch Robi Meili und Carl Schnell an den Nischentisch sitzen. Er sagt zu Charly „Shit, Termin vergessen“, und verdrückt sich.
Am nächsten Tag kommt Geri früher als sonst in die SchampBar. Kurz nach ihm kommt der Neue. Geri fängt ihn ab und nötigt ihm einen Platz am Nischentisch auf. Er heisst Ralph. Andere Generation, aber ganz interessant.
Zuerst kommt Susi Schläfli und geht grusslos an die Bar. Dann Freddy Gut und Carl Schnell, dann Robi Meili. Alle direkt an die Bar.
„Siehst du diese Möchtegerns dort an der Bar?“, fragt Ralph. „Gestern habe ich denen gesagt, dass ich verstehe, warum du ihnen aus dem Weg gehst.“