Der Wettkampfsport Volksmusik

Aber warum hören wir die schönen traurigen Lieder nie? Wahrscheinlich, weil von den Komponisten und Textdichtern dem gelobten Bauern- und Küherstand praktisch keiner angehört. Unter den 178 Komponisten, Textdichtern und Bearbeitern, auf die sich der Eidgenössische Jodlerverband in seiner Festschrift zum 75. Jubiläum 1985) beruft, findet man sieben Bauern und einen Wildhüter. Der Rest sind Beamte, Angestellte, ein paar Schriftsteller, ein Pfarrer, ein paar Politiker, ein paar Hausfrauen, zwei Lehrerinnen und fünfzig Lehrer.
Fünfzig Lehrer aber nur sieben Bauern und ein Wildhüter idealisieren den Bauern- und Küherstand. Dabei hat Musik zur Aufheiterung, so schön sie auch sein mag, gegen Musik zum Traurigsein keine Chance. Eine der erfolgreichsten Volksmusiken überhaupt, der amerikanische Folksong, hat das begriffen. Ein alter Hit bringt es auf den Punkt: „Hey, won’t you play another somebody-’s‑done-somebody-wrong-song / make me feel at home while I miss my baby.“ (Hey, spiel mir doch noch ein Jemand-hat-jemandem-Unrecht-getan-Lied, mach, dass ich mich zu Hause fühle, während ich mein Baby vermisse.)
Es ist nicht einzusehen, warum die Schweizer Jodellieder als einzige Mundartlieder der Schweiz und als wahrscheinliche einzige Volkslieder überhaupt das Traurigsein fast aus ihrem Repertoire verbannt haben. Die einzige mögliche Erklärung ist vielleicht die, dass die Schwermut der Musik durch die Lebenslust der Texte kompensiert werden muss.
Aber auch diese ist zum grössten Teil die Lust auf ein Leben, das es schon lange nicht mehr gibt. Zum Beispiel beim ureigensten Thema der Lyrik, der Liebe, nutzt die offizielle Schweizer Volksmusik ihre Chancen kaum. Wenn es nach den Jodlern ginge, müsste jedes ledige Meitschi ausserhalb der Agglomerationen noch heute jede Nacht Fenster und Türen verriegeln, um die liebestollen Buebe fernzuhalten. Das „Fensterln“, das wir Städter höchstens von Lederhosenfilmen in Privatsendern kennen, scheint, glaubt man den Jodelliedern, in den ringhörigen Schweizer Bauernhäusern noch gang und gäb zu sein.
In der Mundartdichtung der Jahrhundertwende war das „Fensterln“ ein beliebtes Thema. Der Einsiedler Mundartdichter Meinrad Lienert hat ihm ein gutes Dutzend seiner Gedichte gewidmet. Und eines der schönsten einschlägigen Jodellieder ist inzwischen auch über siebzig Jahre alt. Sein Text stammt vom Solothurner Lehrer und Volksdichter Josef Reinhart:
Chum übers Mätteli, chum übre Hag. / Chum vor mis Fänsterli, säg mer Guettag.
Chum a mis Fänsterli, chum a mi Tür. / S’ischt für en einz’ge Bueb s’Rigeli nid für.
Numme en einz’ge Bueb, dä liess ig y. / Andri wei zue mer cho, är got vorby.


Aber die neuere Liebeslyrik im eidg. dipl. Volkslied leidet unter dem gleichen Symptom wie die anderen Themen: Zu viel Freud, zu wenig Leid. Da singt niemand mehr „Und chan er mi nid wärde, vor Trure schtärben i“, wie im Guggisberg Lied. Und „Stets im Trure“ muss auch niemand mehr leben, weil sein Schatz untreu geworden ist und der dennoch gelobt:
„Bis der Mühlstei traged Rebe, / Darus flüsset süesser Wi, / Bis die Distle traged Fige, / Solang solst du blibe mi.
Der Kampf der Geschlechter verläuft im Jodellied ohne grössere Verluste: Einem flotten Chüjerbueb, der eigentlich lieber ledig geblieben wäre, das Rigeli nicht vorgeschoben: Müeti und Ätti geworden.
Nie passiert jemandem etwas Vergleichbares wie dem Country Sänger Kenny Rogers in einer Bar in Toledo: Der zahlt einer hübschen Frau einen Drink und ihr Mann kommt herein und sagt: „You picked a fine time to leave me Lucille“. („Du hast Dir einen guten Zeitpunkt ausgesucht, mich zu verlassen, Lucille: Vier hungrige Kinder und die Ernte im Feld.“) Und daraus macht er ein Volkslied, dessen musikalische Tradition auch nicht jünger ist als die des Jodelliedes.
Auch im Schweizer Dialekt-Rock passieren Sachen, die auch im richtigen Leben passieren: Da erkundigt sich ein verlassener Liebhaber bei seinem Nachfolger scheinbar besorgt nach seiner Ex, nur um fragen zu können: „Redt si no vo mir?“. Oder ein anderer fordert seine Freundin mit dem Mut der Verzweiflung auf, ihm solange das Tram noch fährt, den Laufpass zu geben: „Drück ab“. Beides Songs von „Züri West“ und beides Situationen, die auch jemand nachvollziehen könnte, den ein Jodellied mehr anrührt als ein Mundart-Rock.
Warum verschenken die meisten Jodler die Chance, dem Volk, dessen Seelen-Echo die Volksmusik ja sei, den Zugang zu ihrer Musik durch die Texte zu erleichtern? Die Antwort heißt wahrscheinlich: Weil Jodeln kein Ausdruck von dem ist, was die Menschen des (unter anderem) Bauern- und Küherstandes bewegt, sondern vor allem ein streng reglementierter Wettkampfsport.
Erschienen 1993 im Kulturmagazin DU.