Die Abschaffung der Hierarchien

Die Visitenkarte ist ja nicht direkt ein Führungsinstrument“, gibt Burger zu bedenken, „ich meine, gegen innen. Es geht ja mehr darum, dass sich der externe Gesprächspartner auf der richtigen Hierarchiebene wiederfindet.“
„Von denen haben die meisten die Hierarchien längst abgeschafft“, wendet Erismann ein, „wir hinken wieder hintendrein.“
„Gegen aussen. Gegen innen ganz bestimmt nicht. Die sind doch nicht blöd.“ Diese Verschärfung des Tones stammt von Schäffler, der den konservativen Flügel der Unternehmensleitung vertritt. „Die haben die Titel auf den Visitenkärtchen weggelassen. Und sonst bleibt alles beim alten. Die sind doch nicht blöd“, fügt er noch einmal, diesmal mit etwas mehr Nachdruck hinzu.
Erismann hakt hier ein: „Eben weil sie nicht blöd sind, haben sie eingesehen, dass die spitzen Hierarchien überholt sind.“
„Auf den Visitenkärtchen kann man sie ja lassen“, beharrt Burger, der vor Jahren die amerikanischen Titel initiiert und durchgesetzt hat, und zieht so die Aufmerksamkeit seines Linienvorgesetzten Schlegel auf sich. „Wenn schon denn schon“, sagt er boshaft. „Ich kann auf meinen Senior Executive President verzichten.“
Schäffler wirft Schlegel einen anerkennenden Blick zu und wechselt die Taktik. „Vielleicht haben Sie recht. Wenn schon denn schon. Wenn wir auf den Visitenkärtchen keine Titel mehr führen, können wir den Sachbearbeiter zum Generaldirektor schicken. Das spart eine Menge Personal.“
Schlegel verbeisst sich ein Lächeln über die Absurdität des Gedankens und nickt ernsthaft. Erismann wird ganz eifrig. Das ist das erste Mal, dass ein Modernisierungsvorschlag von ihm in dieser Runde ernsthaft diskutiert wird. Der Durchbruch!
„Genau. Aber nicht nur das. Die Abschaffung der Hierarchien fördert auch den Teamgeist. Und dem Team gehört die unternehmerische Zukunft.“
Die Fraktion Schlegel/Schäffler wird durch Erismanns Reaktion in Verlegenheit gebracht. Sie steht vor der Wahl, entweder darauf zu verzichten, den Titeljäger Burger nicht weiter zu frotzeln, oder diesen kleinen Nationalökonomen Dr. Erismann, der ihnen vom Verwaltungsrat aufs Auge gedrückt wurde, eine Art wie ernst zu nehmen. Das Problem ist das Kostenargument, das Schäffler scherzhaft ins Gespräch gebracht und Erismann schlau aufgenommen hat. Kostenargumente sind in letzter Zeit schwer vom Tisch zu kriegen. Aber noch ehe sich die Fraktion abstimmen kann, meldet sich der beunruhigte Burger mit einem Verzweiflungsvorschlag: „Wir geben verschiedene Visitenkärtchen heraus Für jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter mehrere Hierarchiestufen. Gegen innen die Hierarchien abschaffen, gegen aussen die Hierarchien flexibilisieren. Das spart auch Personalkosten.“
Was als harmloses Geplänkel zum Amüsement der beiden Altherren der Führungsebene begonnen hat, ist nun plötzlich zu einem explosiven Thema geworden: Kostensenkung durch Hierarchieabbau. Schäffler erkennt die Situation und sagt das Richtige: „Wie wollen Sie Kosten sparen, wenn Sie den Leuten mehr Lohn zahlen müssen anstatt sie einfach zu befördern?“
Damit hat er Burgers enthusiastische Zustimmung.
Aber Erismann gibt nicht so schnell auf. Er lenkt erst ein, als Schlegel (guter alter Schlegel!) zum Schein nachgibt und sagt: „Aber dann schaffen wir die akademischen Titel auf den Visitenkärtchen auch ab. Wenn schon, denn schon.“
Einmal erschienen am 12.8.93