Die Geschichte eines Porträts von Werner Düggelin
Wie alles begann
Als junger Texter machte Martin Suter Werbung für das Basler Theater, dessen Schauspieldirektor Werner Düggelin von 1968 bis 1975 war. Daraus entstand eine Freundschaft, die bis zu Düggelins Tod am 6. August 2020 anhielt.
Im Jahr 1992 schlug Suter – er war inzwischen aus der Werbung ausgestiegen und lebte mit seiner Frau, Margrith Nay Suter, auf Ibiza und in Guatemala – Werner Düggelin vor, ihn für das Magazin des Tagesanzeigers zu porträtieren. Silvio Bortolani, der Chefredaktor der Zeitschrift, fand die Idee gut. Düggelin befand sich zu dieser Zeit in Vietnam, gab aber nach seiner Rückkehr sein Einverständnis, das Suter sogleich an Bortolani faxte:
Aus dem Treffen wurden mehrere, wie immer angenehme und lustige, und Martin Suter schrieb das Porträt.
Hier können Sie das Originalmanuskript lesen. Wenn Sie die Seiten anklicken, vergrössern sie sich. Die handschriftliche Notiz an Martin Suters Freund Beat Keusch ist ein Spoiler. Sie verrät nämlich, dass der Text nie erschienen ist. Aber darüber später.
Wenn Sie das Porträt lieber in der Typografie von martin-suter.com lesen, bitte sehr:
Poesie
Oder die Benutzung des Abortes während des Aufenthalts des Zuges in Bahnhöfen
Werner Düggelin gehört an vielen Orten in Basel zur Familie, seit er der Stadt die „Ära Düggelin“ bescherte, die 1967 begann und während sieben Jahren die Basler Theater zum Gesprächsthema machte. Und das nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern, was viel schwieriger und ihm viel wichtiger war, bei den Menschen dieser Stadt. Er war damals Theaterdirektor und das erste Mal in seinem Leben fest angestellt. Er verwandelte Basel flugs in eine renommierte Theaterstadt und holte die Garde und Avantgarde an sein Haus mit der Grosszügigkeit und Zielsicherheit dessen, der so gut ist, dass er sich nicht vor den noch besseren zu fürchten braucht. Er experimentierte, spannte mit dem Fussballclub zusammen, lud international renommierte Rockbands auf seine Bühnen, veranstaltete politische Diskussionen, beschwor Skandale herauf, strapazierte das Budget und sass trotzdem so fest im Sattel wie ein Chefbeamter des Finanzdepartements.
An einem überraschend lauen Sonntagmittag im April sitzt Werner Düggelin im Donati. Es sind nur wenige Gäste da, vielleicht, weil ein paar Tage zuvor der alte Patron gestorben ist, und man sich an einem geschenkten Frühlingssonntag nicht gerne an den Tod erinnern lässt. An zwei entfernten Tischen plätschern gemächliche Gespräche, die Wirtsleute haben mehr Zeit als sonst und plaudern mit „Dügg“ wie mit einem sonntäglichen Familienbesuch.
Werner Düggelin hatte die ganze Stadt und Le Tout Bâle mit seinem unverschämten Gassenjungengrinsen um seine beredten Finger gewickelt. Und dort hängen sie bis zum heutigen Tag.
An diesem frühlingshaften Aprilsonntag isst er „die Artischocken, wie er sie gern hat“. Das Gericht, das er wohl kürzlich in seiner ihm eigenen kulinarischen Willkür über andere Gerichte emporgehoben hat, heisst „Artichaut Barigoule“ und ist mit Sauerampfer, Lattich und Speck von der Kinnlade zubereitet. Zweifellos ein tadelloses Rezept, aber zusammen mit Werner Düggelin genossen erhält es etwas Einzigartiges. Wie alles, auf das er den Scheinwerfer seiner ungeteilten Aufmerksamkeit richtet. Das gilt für Vorspeisen genauso wie für Autoren, Weine, Maler, Länder, Schauspieler und Hotels. Und es gilt auch immer für sein momentanes Gegenüber.
Vielleicht ist genau dies das Geheimnis von Werner Düggelins Erfolg bei den Menschen, die ihn lieben, bei denen, mit denen er arbeitet und bei denen, die ihm schaden könnten: Er macht sie vorübergehend zu etwas Einzigartigem, besser gesagt, er macht sie zu etwas genauso Einzigartigem wie er selber ist, und sei es nur für die Zeit, in der er mit ihnen spricht. Er kann nicht anders, denn er gibt sich nur mit seinesgleichen ab. Und weil er es bei seiner Arbeit mit mehr Leuten zu tun hat, als es seinesgleichen gibt, macht er sie zu solchen. Wenn er mit ihnen spricht, geht er ganz selbstverständlich davon aus, dass sie kennen, was er kennt, lieben, was er liebt, wissen, was er weiß. Anzeichen des Gegenteils ignoriert er, eher pragmatisch als höflich.
Werner Düggelin gibt seinem Gegenüber immer die Chance, zu sein, wie es immer sein wollte. Unabhängig, vielgeliebt, weitgereist, weltgewandt, unkonventinell. Kurz: genauso wie er selber. Er gibt ihm die Gelegenheit, den Düggelin in sich herauszukehren. Dieses metamorphosische Kunststück verlangt seine ganze Konzentration, er geht dabei restlos auf sein Gegenüber ein. Und wie wenn er befürchten müsste, der Funken könnte nicht springen, schliesst er immer wieder den Stromkreis zu seinem Geschöpf, indem er es mit der Hand festhält, die er gerade nicht zum Sprechen braucht. So hat er in seiner langen Karriere Freunde, Gegner, Politiker, Gönner, Kritiker, Beamte und vor allem Schauspielerinnen und Schauspieler verwandelt. (So umstritten auch hie und da seine Inszenierungen waren, so einhellig wird die Arbeit mit ihm gelobt.)
An diesem Sonntag isst er noch von einem mit viel Minze im Ofen zubereiteten Capretto a la Romana und dirigiert immer wieder unauffällig die Flasche Ronco dei Ciliegi des nachschenkenden Kellners von seinem Glas weg zu dem seines Gegenübers. Er hat sich nämlich mit den Jahren eine beiläufig überspielte Disziplin zugelegt, was die weniger unbedenklichen Genüsse des Lebens anbelangt. Beim Kaffee zeichnet er dann auf die Rückseite eines Papieruntersätzchens der „Freunde des guten Kaffees“, was für ihn Poesie ist. Ausdrücklich nicht die Poesie, die entsteht, wenn ihm eine schöne Frau Rilke vorliest, sondern die wahre Poesie. Er zeichnet eine Waagrechte und viertelt sie mit drei kurzen senkrechten. Über der mittleren malt er eine Null, in den Abschnitt links davon ein Plus, in denjenigen rechts davon ein Minus. Dann kritzelt er diese Skala von plus bis minus wütend durch. „Das“, sagt er, „interessiert mich nicht.“ Und er wendet sich den beiden Enden seiner waagrechten zu, die links und rechts jungfräulich über die verunstaltete Skala hinausragen. „Das und das, das ist die Poesie.“
Die Frage nach der Poesie ist aufgetaucht, als er von seinen Anfängen beim Theater erzählte, damals in Paris, als er 21 und Mitarbeiter des avantgardistischen Regisseurs und Freundes von Antonin Artaud, Roger Blin, war, als der im Theatre Sèvre Babylon „Warten auf Godot“ uraufführte. Damals war die Pariser Theaterszene in zwei Lager geteilt: In das des Schauspielers und Regisseurs Louis Jouvet, und das seines Gegenspielers Jean Louis Barrault, ebenfalls Schauspieler und Regisseur. „Wir druckten Traktätli gegen Barrault, schlichen uns in der Pause einer seiner Inszenierung auf die Estrade und warfen sie hinunter.“
Düggelin, dessen Art es nicht ist, in der Vergangenheit zu schwelgen, hat das Thema mit der Bemerkung abgeschlossen: „Gute neue Stücke entstehen nur in Zeiten, in denen man die Welt verändern will. Darum entsteht heute nichts.“ Als die Teller abgetragen wurden, hat er gesagt: „Alles, was kritisch gesagt werden kann, ist gesagt. Wie im richtigen Leben die Religion, kann im Theater der Fluchtweg nur die Poesie sein.“
Und jetzt ist er dabei, zu erklären, was er mit Poesie meint. „Canetti beschreibt eine Demonstration, kommt dabei auf das Thema „Masse“ und plötzlich merkst du, dass der 30 Jahre über Masse nachgedacht hat. Das ist Poesie.“ Elias Canetti ist kein zufälliges Beispiel. Im Moment arbeitet Werner Düggelin am Schauspielhaus Zürich an der Welturaufführung des einzigen Stückes, das Canettis erste Frau Vesa schrieb. Es heisst „Der Oger“, ist 40 Jahre alt und „so zerbrechlich: eine falsche Bewegung und du hast nur noch Scherben.“
Am Nachmittag dieses überraschend lauen Aprilsonntags fährt er nach Zürich, wo er während der Proben wohnt. Der Zug steht noch im Bahnhof, da steht er auf und verschwindet ins WC.
„Nicht während der Zug hält“, ruft ihm das für Sekunden aus dem Stromkreis der Grosskariertheit ausgeklinkte Gegenüber kleinmütig nach. Da erscheint noch einmal sein Gesicht an der Abteiltür und er grinst: „Ich kann nicht bei fahrendem Zug.“
Da endlich hat sein Gegenüber Werner Düggelins Poesie begriffen.
Mit diesem Begleitbrief ging das Porträt an Werner Düggelin:
Und als der Porträtierte mit dem Porträt einverstanden war, lieferte Martin Suter es ab:
Die Premiere von „Der Oger“, das Stück von Canettis erster Frau, Vesa, an dem Düggelin zu dieser Zeit arbeitete, rückte näher und ging vorbei, ohne dass das Porträt erschienen wäre. Als es im Juli noch immer nicht erschienen war, erkundigte Martin Suter sich beim Chefredaktor schüchtern nach dessen Verbleib:
Eine überraschende Wendung
Die Monate zogen ins Land, und als die Redaktion des Magazins erfuhr, dass Werner Düggelin in der Komödie Basel in „Der Regisseur und die Schauspielerin“ zum ersten Mal in seinem Leben als Schauspieler auf der Bühne stehen wird, beschloss sie, das Porträt doch abzudrucken. Martin Suter freute das. Aber Werner Düggelin nicht. „Die können doch nicht“, schimpfte er, „ein Porträt drucken, das vor neun Monaten geschrieben wurde. Als würde ich mich in so langer Zeit nicht verändern!“
Man einigte sich darauf, dass Martin Suter ein neues Porträt schrieb. Wenn Sie es lesen, werden Sie feststellen, dass er dafür ein paar Stellen aus dem alten gestohlen hat.
Nichts sagen
Werner Düggelin steht zum ersten Mal in seinem Leben auf der Bühne. Nicht als Regisseur. Aber auch nicht als Schauspieler.
An einem überraschend blauen Sonntagmittag im April des vergangenen Jahres sass Werner Düggelin im „Donati“ in Basel. Er hatte diese „Artischocken, wie er sie gern hat“ gegessen und einen mit viel Minze im Ofen zubereiteten Capretto a la Romana. Die Wirtsleute hatten mit ihm geplaudert wie mit einem sonntäglichen Familienbesuch, und beim Kaffee zeichnet er auf der Rückseite eines Papierserviettchens der „Freunde des guten Kaffees“, was für ihn Poesie ist.
Werner Düggelin arbeitete damals am Schauspielhaus Zürich an der Welturaufführung von „Der Oger“, einem Stück, das Canettis erste Frau, Vesa, vor 40 Jahren geschrieben hat, und die Frage, was für ihn (und das Theater) Poesie ist und bedeutet, beschäftigte ihn.
Ein dreiviertel Jahr später sitzt Werner Düggelin tief hinten im „Schlauch“ der Kunsthalle in Basel, und es beschäftigen ihn andere Fragen. Der Verdacht, ein aktuelles Porträt über ihn könnte den Werner Düggelin des Aprils 92 beschreiben, die Vorstellung, man könnte annehmen, dass er sich in neun Monaten nicht verändere, befremdet ihn so, dass er sich dazu hergibt, etwas zu tun, was der Werner Düggelin des Januars 93 eigentlich nicht mehr mag: sich erklären. „Einer, der nichts sagen will“, sei er heute.
So Lässt er denn auch dem Wirt freie Hand („aber Fisch“) und richtet ihm durch den Kellner aus, (der „Bar Léopard“ und ein „Fagotto di legumi alla fonduta di Taleggio“ serviert): „Ihr könnt es ja, wenn Ihr Euch Mühe gebt.“
„Dügg“ darf das, denn er gehört hier zur Familie wie an vielen Orten in Basel, seit er der Stadt die„Ära Düggelin“ beschert hat, die 1967 begann und während sieben Jahren die Basler Theater zum Gesprächsthema machte. Und das nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern, was viel schwieriger und ihm viel wichtiger war, bei den Menschen der Stadt. Er war damals Theaterdirektor und das erste Mal in seinem Leben fest angestellt. Er verwandelte Basel in eine renommierte Theaterstadt und holte die Garde und Avantgarde an sein Haus mit der Grosszügigkeit und Zielsicherheit dessen, der so gut ist, dass er sich vor den noch besseren nicht zu fürchten braucht. Er experimentierte, spannte mit dem Fussballclub zusammen, lud international renommierte Rockbands auf seine Bühnen, veranstaltete politische Diskussionen, beschwor Skandale herauf und strapazierte das Budget. Werner Düggelin hatte die ganze Stadt und Le Tout Bâle um den Finger gewickelt.
Dort befinden sie sich noch heute und werden es sich nicht entgehen lassen, Werner Düggelin erstmals in seiner Lieblingsrolle auf der Bühne zu sehen: als Regisseur.
Der Mann, der nichts sagen will, kommt nämlich aus der Probe zu „Der Regisseur und die Schauspielerin“ (Elvire Jouvet 40). Dem Stück von Brigitte Jaques liegen Louis Jouvets Proben der letzten Szene der Elvira aus Molieres „Don Juan“ zugrunde, die 1940 mitstenographiert wurden. Werner Düggelin führt darin aber nicht Regie, er ist der Regisseur. Was nicht heißt, dass er den Regisseur spielt, erklärt der Mann, der sich nicht mehr erklären mag, denn Schauspieler sei er nicht.
Werner Düggelin verkörpert in diesem Stück den Regisseur, weil er einer ist. Nicht weil er sich als Schauspieler gebärden will, sondern weil er neugierig darauf ist, mehr darüber zu erfahren, wie Theater entsteht. Wie der Automechaniker, der einmal ein paar Runden drehen will, damit er Verhalten, Motor und Eigenschaften des Formel l Wagens besser begreift.
Seine Partnerin auf diesen Erfahrungsrunden ist Annelore Sarbach. („Senna, denn ich getrau mich nicht zu jedem ins Cockpit. Und von Prost würde ich Ausschläge kriegen.“) Und die Frau, die dafür sorgt, dass der, der dort oben steht, auch Regisseur bleibt und nicht Schauspieler wird, ist die Regisseurin Nikola Weisse.
Der Mann, der sich nicht mehr erklären mag, unterbricht seine Erklärung durch einen raschen Jass mit dem Wirt und droht nachher mit einem Leserbrief des Gemeindeschreibers von Siebnen (wo er herkommt) falls das Resultat der Partie hier veröffentlicht wird.
Dann redet er über das, was den Werner Düggelin, Januar 93, beschäftigt: Die Angst der Leute, nicht mehr in zu sein. „Noch nie habe ich das so erlebt wie heute, dass sich die Arbeit und die Meinung von Leuten, die ich gern habe, aus dieser Angst verändert und dadurch natürlich belanglos wird. Wir leben in einer grässlichen Zeit, in der die Leute sich fürchten, nicht ernst genommen zu werden. Und sich deshalb zu ernst nehmen. Und das Schlimme daran ist, dass das bei den Politikern am krassesten ist.“
Während Werner Düggelin über andere Dinge redet, erklärt er sich selber am deutlichsten: Er macht sein Gegenüber vorübergehend zu etwas Einzigartigem. Zu etwas genauso Einzigartigem wie er selber ist, und sei es nur für die Zeit, in der er mit ihm spricht. Er kann nicht anders, denn er gibt sich nur mit seinesgleichen ab. Und weil er es bei seiner Arbeit und in seinem Leben mit mehr Leuten zu tun hat, als es seinesgleichen gibt, macht er sie zu solchen. Wenn er mit ihnen spricht, geht er ganz selbstverständlich davon aus, dass sie kennen, was er kennt, lieben, was er liebt, wissen, was er weiss. Anzeichen des Gegenteils ignoriert er. Aus Rücksicht auf sich selbst.
Werner Düggelin gibt seinem Gegenüber immer die Chance, zu sein, wie es immer sein wollte: Unabhängig, vielgeliebt, weitgereist, weltgewandt, unkonventionell. Kurz: genauso wie er selber. Er gibt ihm die Gelegenheit, den Düggelin in sich herauszukehren. Diese metamorphosische Nummer verlangt seine ganze Konzentration und er geht dabei restlos auf sein Gegenüber ein. Als ob er befürchten müsste, der Funken könnte nicht springen, schließt er immer wieder den Stromkreis zu seinem Geschöpf, indem er es mit der Hand festhält, die er gerade nicht zum sprechen braucht. So hat er wohl in seiner langen Karriere immer wieder Freunde, Gegner, Politiker, Gönner, Kritiker, Beamte und vor allem Schauspielerinnen und Schauspieler verwandelt.
Und vielleicht kann er deshalb heute, Januar 93, sagen: „Ich habe verhältnissmässig uhuere wenig Kompromisse gemacht.“ Er hat wahrscheinlich uhuere viele Kompromisse verursacht, ohne dass er es merkte. Ganz zu schweigen von denen, die sie eingingen.
Auch wenn er sich nicht mehr erklären will: Wenn an der Premiere am 23. Januar auf der Bühne der Komödie Basel dieser Werner Düggelin steht, dann wird Basel und Le Tout Bâle nicht nur etwas mehr über Theater erfahren, sondern auch etwas mehr über den Mann, der für die Stadt vor 25 Jahren eine Theaterhochblüte eingeläutet hat, von der viele befürchten, dass sie gerade dabei sind, ihre letzte Saison zu erleben.
Und ein anderer Werner Düggelin wird gar nicht auf der Bühne stehen können.
Denn er ist ja kein Schauspieler.