Mimi la Douce
Geri bemerkt den Pudel schon vor dem Apéro. Er rennt konfus von einem Passanten zum anderen, schnuppert kurz und rennt weiter. Geri schafft es in die SchampBar, bevor das Tier auch ihn beschnuppert. Er kann es nicht besonders mit Hunden.
An diesem Abend läuft es ihm nicht nach Wunsch. Die SchampBar hat keinen Mittelpunkt. Die Zelle hat sich gespalten in ein Grüppchen um Robi Meili und Susi Schläfli und eines um Carl Schnell und Freddy Gut. Geri hasst solche Konstellationen. Jede Entscheidung für einen der beiden Schauplätze ist eine gegen den jeweils anderen. Er kann sich nicht entspannen. Immer quält ihn der Verdacht, die Zellteilung habe einen Grund, den er nicht kennt und er solidarisiere sich in irgendeiner Sache für etwas und gegen jemanden. So pendelt er denn zwischen den Brennpunkten hin und her und landet in der Regel zwischen Stuhl und Bank.
So auch an diesem Abend. Er befindet sich gerade bei der Schnell-Gut-Gruppe, als die beschliesst, noch kurz im Grappino reinzuschauen. Il Grappino ist eine neue italienische Stehbar, über die Geri von Robi Meili kürzlich eine abschätzige Bemerkung aufgeschnappt hat. In so heiklen Fragen wie neue Lokale verlässt er sich immer noch auf den Trendbarometer Meili. Er klinkt sich also aus und nimmt sich vor, sobald die Schnell-Gut Gruppe gegangen ist, das Thema Grappino in der Meili-Schläfli-Gruppe aufzubringen. Er nützt den Aufbruch zu einem kurzen Toilettenbesuch. Als er zurückkommt, sind beide Grüppchen gegangen. Ins Grappino, wie er von Charly erfährt. Er muss dem tödlich beleidigten Barman bis Lokalschluss Gesellschaft leisten. Dann macht er sich verdrossen auf den Heimweg.
Draussen empfängt ihn eine laue Mainacht. Kaum ist er ein paar Schritte durch die stille Gasse gegangen, taucht der Pudel auf, beschnuppert ihn und wedelt mit dem, was man von seinem Schwanz übriggelassen hat.
„Hau ab“, zischt Geri. Nicht zu laut, denn das Tier ist nur etwa drei Zentimeter unter seiner Angstgrenze. Ab dreissig Zentimern Höhe fürchtet er sich vor Hunden. Aber der Pudel geht nicht weg. Er tänzelt ihm um die Beine wie ein Mini-Lipizaner. Und als Geri das ignoriert, stellt sich das Tier auf die Hinterbeine wie ein winziges Känguru.
Vor dem Alten Brauhaus stehen zwei Betrunkene und applaudieren begeistert.
Unter anderen Umständen hätte er Mittel und Wege gefunden, die Affäre an diesem Punkt zu beenden. Aber die Nacht ist lau und Geri nicht immun gegen spontane Zuneigung, selbst seitens eines Pudels. So kommt es, dass er nichts dagegen unternimmt, dass ihn das Tier bis vor die Haustür begleitet.
Dort aber wird Geri konsequent. Er öffnet die Tür einen Spalt, schlüpft hinein und schliesst sie sofort hinter sich. Eisern entschlossen, jedes Winseln und Bellen kalt zu ignorieren.
Aber nur das Ticken des Lichtautomaten im Treppenhaus und der Motor eines späten Autos sind zu hören. Geri öffnet die Tür einen Spalt. Vor der Schwelle sitzt der Pudel und schaut ihn an. Direkt in die Augen
In der Küche verschlingt der Zwerg die dreihundert Gramm Fleischkäse, die Geri für seine sorgfältig geheimgehaltenen Anfälle von politisch inkorrekten Essgelüsten im Kühlschrank bereithält. Er spült sie mit einem halben Liter Wasser herunter, das Geri ihm mit etwas Nesquick aufgepeppt hat.
Am nächsten Morgen erwacht Geri Weibel neben einem apricotfarbenen Toy-Pudel. Er geht ins Bad, das Tier bleibt noch ein wenig liegen. Erst als er sich seinen Kaffee macht, erscheint es und begrüsst ihn mit einer Überschwenglichkeit, die ihn von seinem Vorsatz abbringt, auf dem Weg zur Arbeit bei einem Tierheim vorbeizufahren. Stattdessen meldet er sich krank.
Die folgenden Tage verlässt Geri das Haus nur zum Gassi gehen und einkaufen. Er zermartet sich das Hirn nach einer halbwegs plausiblen Entschuldigung, in der SchampBar mit einem tänzelnden apricot Toy-Pudel aufzutauchen. Am vierten Tag gelangt er zur bitteren Erkenntnis: es gibt keine.
Vor die Wahl gestellt, selbst ausgestossen zu werden oder den Pudel zu verstossen, entscheidet Geri sich – wer wird es ihm verdenken? – für Geri. Nie wird er den Blick des kleinen Geschöpfs vergessen, als er es an der gleichen Stelle, wo es ihm zugelaufen ist, mit wüsten Drohungen zum Teufel jagt.
Als er zwei Tage später wieder in der SchampBar auftaucht, stellen ihm Susi Schläfli, Freddy Gut, Robi Meili und Carl Schnell das neue Maskottchen der Bar vor: einen apricot Toy-Pudel, den sie Mimi la Douce nennen. Als Geri das Tierchen streicheln will, knurrt es ihn böse an.