Leos Aufstieg und Fall
Niemand erinnert sich, woher Leo kam. Eines Tages ist er einfach da. Er hält sich an keines der ungeschriebenen Gesetze, die die schrittweise Annäherung von Neulingen an den inneren Zirkel der SchampBar regeln. Er sitzt nicht wochenlang am Garderobeständer-Tischchen und wartet demütig darauf, von einem der Habitués beachtet zu werden. Er bezahlt auch nicht inkognito eine Barrunde oder kauft sich Charly mit überrissenen Trinkgeldern in der Hoffnung, der mache die Runde auf den sympathischen Neuzugang aufmerksam. Leo steht eines schönen Tages einfach mitten unter ihnen an der Bar, gibt jedem die Hand und sagt „Leo“.
Normalerweise würde Robi Meili mit einem süffisanten „Aha“, antworten und Freddy Gut würde die Hand ignorieren. Aber Leo bringt es fertig, dass beide seine Hand kräftig schütteln und verdattert „Robi“ und „Freddy“ stammeln. Als Carl Schnell „Carl mit C“, sagt, klopft ihn Leo lachend auf die Schulter. Dann nimmt er einen Schluck aus Susi Schläflis Glas (aus Susi Schläflis sterilem Glas!) und ruft Charly zu, „mir auch so einen, Chef!“
Geri, der schon dreimal seine Hand ausgestreckt und blitzschnell wieder eingezogen hat, übersieht er.
„Vielleicht ist er nur unsensibel“, schlägt Susi Schläfli vor, als sie sich Stunden später im Grappino vom Schock der ersten Begegnung mit Leo erholen. Robi Meili ist anderer Meinung. Unter anderem, weil Leo instinktiv die Hackordnung erkannt hat. Eine These, die er allerdings in Geris Anwesenheit nicht näher erläutern kann.
Am nächsten Tag steht Leo in der SchampBar, als ob er der Besitzer wäre. Er hat für alle einen Übernamen. Robi nennt er Globi, FreddyTeddy, Susi Schläfli das Schäfli und Carl Zarl. Geri ignoriert er weiterhin.
Wenn früher jemand gewagt hätte, ihn Globi zu nennen, Robi Meili hätte dafür gesorgt, dass er lebenslänglich Lokalverbot erhalten hätte. Jetzt lächelt er nur säuerlich. Bereits am dritten Tag nach Leos Auftauchen haben sich die Spitznamen eingebürgert. Selbst das Schäfli sagt jetzt Zarl zu Carl und Karli zu Charly.
Niemand kann sich die Macht erklären, die Leo auf sie ausübt. Carl Schnell vermutet ein angeborenes Machtbewusstsein, gegen das sich zu Differenziertheit und Respekt erzogene Leute einfach nicht wehren können. „Wenn einer schon mit dem Namen Leo aufwächst, Teddy“, fügt er hinzu.
Treffen ohne Leo werden immer seltener. Er ist immer dabei, und wenn er geht, nötigt er einen oder zwei aus der Runde, mitzukommen. Dann lässt er sich von ihnen jeweils zu Filmen einladen und diktiert ihnen anschliessend ihr Urteil darüber. Bei einem Drink, den er nicht selbst bezahlt.
Überhaupt ist Leo kein guter Zahler. Niemand kann sich daran erinnern, ihn einmal für sich zu bezahlen, geschwiegen denn jemanden einladen gesehen zu haben. Diskrete Nachforschungen bei Karli bestätigen diesen Eindruck voll und ganz. Leo tanzt ihnen nicht nur auf der Nase herum, er lässt sich auch von ihnen aushalten. Selbst Geri hat ihm in seinem Ringen um Beachtung für gegen hundertvierzig Franken Drinks bezahlt. Mit dem Erfolg, das er von Leo nach wie vor als Luft behandelt wird.
Die SchampBar beginnt Leo zu hassen. Aber niemand wagt es, ihm etwas von diesem Hass zu zeigen. Man unterwirft sich seinem Regime und beschränkt sich darauf, bei konspirativen Treffen den Tyrannen zu verfluchen.
Am abgrundtiefsten ist der Hass in Geris Brust. Dass er als einziger von Leo nicht tyrannisiert wird ist eine Diskriminierung, die er nicht verkraftet. In ihm wächst die Entschlossenheit, endlich einmal etwas Mutiges zu tun.
Und dann, ganz unerwartet, bricht Leo zusammen. Er sitzt wie immer an der Bar auf dem einzigen Hocker, umgeben von der kleinen Gemeinde seiner Opfer, und wird immer stiller. Globi, Teddy, das Schäfli, Zarl und Karli schweigen mit. Plötzlich löst sich eine Träne von Leos Wimper und fällt in seinen Wodka Red Bull. Und noch eine. „Ich bin ein unausstehlicher kleiner Scheisser“, stösst er aus. Er entschuldigt sich bei allen immer wieder und verspricht, dass er sich ab sofort bessern werde.
Zwei Stunden dauert es, bis ihn Robi, Freddy, Susi, Carl und Charly getröstet und davon überzeugt haben, dass er kein unausstehlicher kleiner Scheisser sei. Sie geloben sich echte, auf gegenseitigem Respekt beruhende Freundschaft und trinken in nie gekannter Harmonie – auf Leos Rechnung – noch eine Runde. Da fliegt die Tür auf, Geri betritt das Lokal, steuert geradewegs auf Leo zu, nimmt seinen ganzen Mut zusammen und zischt: „Hau ab, du unausstehlicher kleiner Scheisser!“