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Neun Briefe aus Sri Lanka

In den letz­ten Ta­gen des Jah­res 1979 und den ers­ten von 1980 reis­te Mar­tin Suter im Auf­trag von Geo nach Sri Lan­ka. Je­den Tag schrieb er auf sei­ner Her­mes Ba­by ei­nen Brief an den le­gen­dä­ren Chef­re­dak­teur, Rolf Win­ter.

Mar­tin Suter und sein Gui­de, Ran­jit Hin­de­ru­gal­la, vom Dorf­fo­to­gra­fen ab­ge­lich­tet und re­tu­schiert. Ran­jit stell­te sich un­be­merkt auf ei­nen Sche­mel.

1. Brief

Gal­le Face Ho­tel, Co­lom­bo, den 30.12.79

Lie­ber Rolf Win­ter,

Im Flug­zeug sass ein jun­ges Pär­chen aus der Schweiz mit Schwie­ger­mut­ter. Sie hat­te als Hand­ge­päck ei­ne lee­re Ba­by-Trag­ta­sche da­bei.

Die un­be­küm­mer­te, hell­blon­de Hos­tess: „Geht Ihr ei­nes ad­op­tie­ren?“

Er (pein­lich be­rührt und fast un­hör­bar): „Ja. “

Die un­be­küm­mer­te, hell­blon­de Hos­tess: „Ach, wie her­zig, wie alt ist es?“

Er (mit ei­nem An­flug von Va­ter­stolz und dar­um et­was lau­ter): „Zwei Mo­na­te.“ Kramt den Geld­beu­tel her­vor und zeigt ihr ein Fo­to.

Die un­be­küm­mer­te, hell­blon­de Hos­tess: „Nein, wie her­zig, ach, wie her­zig.“

Un­ter den Zei­tungs­aus­schnit­ten, die mir die zen­tra­le Text­do­ku­men­ta­ti­on mit­ge­ge­ben hat­te, be­fin­det sich ei­ne Mel­dung aus der Süd­deut­schen Zei­tung von 1976: Han­del mit cey­lo­ne­si­schen Ba­bys. Sie be­sagt, dass ein­hei­mi­sche Ba­by­händ­ler Ba­bys für 20 Mark kau­fen, sie für 800 Mark an Ad­op­ti­ons­agen­tu­ren wei­ter­ver­kau­fen, die die­se dann wie­der­um mit Ge­winn an eu­ro­päi­sche Ad­op­tiv­el­tern wei­ter­ver­mit­teln.

Selbst wenn an die­ser Ge­schich­te et­was dran wä­re, wä­re es die fal­sche Ge­schich­te über Sri Lan­ka. Ich weiss, dass Sie nicht er­war­ten, dass ich mich jetzt un­ab­schüt­tel­bar an die­se Sto­ry hän­ge.

Nach dem Film, in wel­chem Da­vid Carra­di­ne, die­ser un­zu­ver­läs­si­ge Ha­lo­dri, ein un­glaub­lich un­sport­li­ches Mo­tor­rad­ren­nen quer durch USA schliess­lich doch noch ge­wann, frisch­te ich mei­ne Kennt­nis­se über Sri Lan­ka auf: In­sel, der Süd­spit­ze In­di­ens vor­ge­la­gert. Seit 500 v. Chr. be­sie­delt. 1505 bis 1658 Por­tu­gie­si­sche Ko­lo­nie. Dann Hol­län­di­sche bis 1796. Dann Eng­li­sche bis 1948. 14 Mil­lio­nen Ein­woh­ner, in der gros­sen Mehr­heit Sin­gha­le­sen, in der Min­der­heit Ta­mi­len. Haupt­ex­port­gü­ter sind Tee und Kau­tschuk. Re­gie­rungs­chef ist Ju­ni­us Ja­ya­war­de­ne, des­sen United Na­tio­nal Par­ty der Sri Lan­ka Free­dom Par­ty un­ter Siri­ma­vo Band­ar­a­nai­ke (, die 1960 die ers­te Re­gie­rungs­chefin der Welt war) ei­ne Wahl­kan­ter­nie­der­la­ge ver­pass­te. 1977 wur­de er Pre­mier­mi­nis­ter, 1978 führ­te er ein Prä­si­di­al­sys­tem ein, das den Prä­si­den­ten zum star­ken, prak­tisch nicht ab­wähl­ba­ren Mann im Staat mach­te, und wur­de Prä­si­dent.

Sei­ne Re­gie­rungs­po­li­tik ist sehr west­lich ori­en­tiert.

Er hat die Han­dels- und De­vi­sen­re­strik­tio­nen sei­ner Vor­gän­ge­rin auf­ge­ho­ben und die Rech­te der Ar­beit­neh­mer wie­der ein­ge­schränkt. Band­ar­a­nai­ke warf man vor, dass sie ei­nen So­zi­al­staat ge­schaf­fen hat­te, der das vie­le Geld, das er aus­gab, nicht ein­neh­men moch­te.

Die The­men der Pres­se­mel­dun­gen und Ar­ti­kel in mei­ner Do­ku­men­ta­ti­on sind: Tou­ris­mus (Tem­pel, Tee und tau­send Träu­me), So­zia­les (Ein Pa­ra­dies für Rat­ten), Wirt­schaft­li­ches (Sri Lan­ka will Bo­den gut­ma­chen) und der Kon­flikt zwi­schen Sin­gha­le­sen und Ta­mi­len. Es sind die The­men, de­nen auch ich nach­ge­hen wer­de. Die­sen The­men und den Bil­dern von Bru­no Bar­bey.

Mei­ne ers­ten Ein­drü­cke: Wie­der die­ser rot­blaue Strei­fen zwi­schen kei­nem Him­mel und kei­ner Er­de, wenn man im Flug­zeug aus kei­nem Schlaf ge­weckt wird zu ei­ner Zeit, für die man kein Ge­fühl mehr hat.

Der An­flug über La­gu­nen und Pal­men­strän­de, die man schon so oft auf Bil­dern ge­se­hen hat, dass man ver­ges­sen hat, dass es sie wirk­lich gibt.

Die feuch­ten 28 Grad Cel­si­us, auf die man an der Gang­way prallt, die ei­nen zu­erst ab­son­dern wol­len, wie ei­nen frem­den Or­ga­nis­mus und auf dem Weg über den Tar­mac zö­gernd und wi­der­stre­bend auf­zu­neh­men be­gin­nen.

Die halb ge­mäch­li­che, halb chao­ti­sche Ta­xi­fahrt in die Stadt. Durch die Pal­men, die man eben erst noch nicht glau­ben woll­te.

Und der Ge­ruch, der al­les aus­macht: Süss­li­ches, nicht Mo­dern­des; Blü­hen­des und Ver­blüh­tes ge­bun­den durch Ko­kos­scha­len-Rauch. 

Ein wohl­be­kann­ter frem­der Ge­ruch, der ei­nem nach zwei Ta­gen nicht mehr auf­fällt, und an den man sich erst er­in­nert, wenn man wie­der­kehrt.

Das Ho­tel, in dem ich re­ser­viert hat­te, hat­te kein Zim­mer frei. Ich woh­ne jetzt im Gal­le Face, dem al­ten Ko­lo­ni­al­pa­last, der sich rühmt, äl­ter als das Raff­les in Sin­g­a­po­re zu sein, 116 Jah­re alt. Das Ho­tel wird ge­ra­de re­no­viert. Des­halb wur­den die Zim­mer­prei­se ein­fach un­ge­fähr ver­dop­pelt.

In der wei­ten Hall und beim Bar­be­cue mit Ta­fel­mu­sik und Bran­dung fühl­te ich mich ein we­nig ge­niert. Auch die Früch­te­scha­le im gros­sen und doch muf­fi­gen Zim­mer brach­te mich et­was in Ver­le­gen­heit. Aber der Zu­stand des Ba­de­zim­mers glich das al­les wie­der et­was aus. Und auch die Ei­dech­se auf dem Nacht­tisch ge­ra­de eben: Jetzt füh­le ich mich wohl.

Vom Ho­tel bis zum In­ter­con­ti­nen­tal, das ge­baut wur­de, als Sie das letz­te Mal in Sri Lan­ka, das da­mals noch Cey­lon hiess, wa­ren, er­streckt sich ei­ne Wie­se et­wa zwei Ki­lo­me­ter dem Meer ent­lang. Heu­te Abend war sie vol­ler Licht­lein von klei­nen, ver­streu­ten Markt­stän­den. Ich ging auf ihr spa­zie­ren. Jun­ge Män­ner bau­ten ei­ne Tri­bü­ne.

Mor­gen soll ein Neu­jahrs­fest sein. Am an­dern En­de der Wie­se war ein Jahr­markt mit ei­nem hand­be­trie­be­nen Rie­sen­rad, mit Stän­den und Tanz­dar­bie­tun­gen und vie­len Men­schen.

(Hel­lo, Sir. What is your Coun­try, Sir? Wel­co­me, Sir.) Auf dem Rück­weg be­glei­te­te mich ein Jun­ge. Er trug ei­nen Korb mit Nüs­sen und ei­nem klei­nen be­mal­ten Ele­fan­ten. Er sei ein Busi­ness Boy, sag­te er und be­kräf­tig­te das mit zwei Hun­der­tru­pi­en-Schei­nen. An ei­ner Stel­le auf der Wie­se, die sich in mei­nen Au­gen durch nichts von ir­gend­ei­ner

an­dern Stel­le un­ter­schied, mach­te er halt. Er kön­ne jetzt nicht mehr wei­ter kom­men. Auf der an­de­ren Sei­te pas­se ihm ei­ner ab, den er ein­mal bei der Po­li­zei ver­pfif­fen ha­be. Und er zeig­te mir, wo der ihm ein Mes­ser wol­le, un­ter den Rip­pen­bo­gen, of­fen­bar auf Le­ber­hö­he. 

Mor­gen wer­de ich mich mit Lo­thar Hoff­mann tref­fen. Ich fand sei­nen Na­men un­ter ei­nem Le­ser­brief an die NZZ. Er kor­ri­gier­te und er­gänz­te dar­in ei­nen Ar­ti­kel über Sri Lan­ka. Er schrieb, dass er seit 33 Jah­ren hier le­be und ar­bei­te. Der Mann müss­te mir wei­ter­hel­fen kön­nen.

Die Air­con­di­ti­on summt. (Sie hat zum Glück nicht die Kraft, das Zim­mer so zu un­ter­küh­len, wie es sonst Mo­de ist.)

Das Meer klingt wie ein fer­nes Som­mer­ge­wit­ter. Ich wer­de Ih­nen bald schrei­ben, wie ich Sri Lan­ka wei­ter­er­lebt ha­be.

Mit herz­li­chen Grüs­sen 

Ihr

2. Brief

Gal­le Face Ho­tel, Co­lom­bo, den 31.12.79

Lie­ber Rolf Win­ter,

Auf dem Gal­le Face Green, in­zwi­schen weiss ich, wie die Wie­se heisst, von der ich im letz­ten Brief er­zähl­te, ist al­ler­hand los: Tau­sen­de sind dar­auf ver­sam­melt, ein klei­nes Wood­stock bei Nacht. Im Zen­trum steht die Büh­ne, die ich für ei­ne Tri­bü­ne hielt, als sie ges­tern von den jun­gen Män­nern auf­ge­baut wur­de. Seit acht Uhr spie­len ver­schie­de­ne Bands. Im Mo­ment Ka­lin­ka in asia­ti­schem Sound. Un­un­ter­bro­chen knal­len Ka­no­nen­kra­cher. Es ist fünf vor Mit­ter­nacht. Von mei­nem Fens­ter aus kann ich die gan­ze Wie­se über­bli­cken. In die­sem Au­gen­blick geht da un­ten die Höl­le los. Es muss spä­ter sein. Glück­li­ches neu­es Jahr, Rolf Win­ter, ich geh jetzt ans Fens­ter.

Al­so: Es gab ein of­fi­zi­el­les Feu­er­werk bei der Büh­ne. Ab er das ging un­ter in den vie­len Pri­vat­feu­er­wer­ken. Der gan­ze Gal­le Face Green ex­plo­dier­te.

Neu­jahr ist ein Fei­er­tag in Sri Lan­ka, ob­wohl nur acht Pro­zent der Ein­woh­ner Chris­ten sind. Die Mehr­heit sind Bud­dhis­ten, knapp ein Fünf­tel Hin­dus, sie­ben Pro­zent Mus­li­me. Aber das gan­ze Volk fei­ert die Fest­ta­ge al­ler vier Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten. So kommt es, dass Sri Lan­ka, sehr zum Leid­we­sen der neu­en Re­gie­rung und der aus­län­di­schen Wirt­schafts­part­ner, den ab­so­lu­ten Fei­er­ta­ge-Welt­re­kord hält. Letz­tes Jahr wa­ren es 17. Nächs­tes Jahr wird es min­des­tens ei­ner we­ni­ger: Der Voll­mond fällt auf den Neu­jahrs­tag. Und in Sri Lan­ka ist je­der Voll­mond­tag ein Fei­er­tag. Das hat den zu­sätz­li­chen Nach­teil, dass heu­te ab Mit­ter­nacht kein Al­ko­hol mehr ver­kauft wird. Ich kann mir den­ken, dass dies der Stim­mung am Neu­jahrs­ban­kett mit Kam­mer­mu­sik im Ball­saal ei­nen Stock tie­fer nicht eben zu­träg­lich ist. Zu­mal das Eis, als ich kurz vor Zwölf rein­schau­te, noch kei­nes­wegs ge­bro­chen schien.

Heu­te traf ich Thi­lo Hoff­mann, den Ost­schwei­zer, der 1946 hier­her kam. Er ar­bei­tet bei Baur & Co, ei­ner Fir­ma, die Kunst­dün­ger, und un­ter an­de­rem auch Agent ei­nes gros­sen Rei­se­un­ter­neh­mens und der Swis­sair ist. Herr Hoff­mann ist drah­tig, le­ben­dig, zu­vor­kom­mend, kom­pe­tent und ge­ra­de so kon­ser­va­tiv wie ein Eu­ro­pä­er nach 34 Jah­ren wird, in ei­nem Land, das er noch als Ko­lo­nie ge­kannt und ge­liebt hat.

Er steht auf dem Stand­punkt, dass es seit den Fünf­zi­ger­jah­ren berg­ab ge­he. Den Stand­punkt an­de­rer Leu­te hab ich noch nicht ge­hört.

Er er­zähl­te mir in kur­zer Zeit sehr viel über Land, Leu­te, Wirt­schaft, Po­li­tik, Tou­ris­mus und Folk­lo­re. Dem Meis­ten muss ich noch ein we­nig nach­ge­hen. Aber über das Pro­blem zwi­schen Sin­gha­le­sen und Ta­mi­len wa­ge ich schon zu be­rich­ten.

Et­wa 70% der Be­völ­ke­rung sind Sin­gha­le­sen, et­wa 20% Ta­mi­len, die üb­ri­gen sind Moors, Burg­hers und Ma­lai­en.

(Die Moors sind die Mus­li­me, die Burg­hers die por­tu­gie­si­schen und hol­län­di­schen Misch­lin­ge.)

Die Ta­mi­len sind ei­ne dra­vi­di­sche Be­völ­ke­rungs­grup­pe, die aus Süd­in­di­en stammt und hin­du­is­tisch ist statt bud­dhis­tisch wie die Sin­gha­le­sen, und Ta­mil spricht statt Sin­gha­le­sisch.

Und jetzt wird es kom­pli­ziert: Es gibt näm­lich zwei Ar­ten von Ta­mi­len, Sri Lan­ka Ta­mi­len und In­di­sche Ta­mi­len. Die ers­te­ren be­sie­deln seit Jahr­hun­der­ten den äus­sers­ten Nor­den und die Ost­küs­te der In­sel und er­rich­te­ten dort einst ihr ei­ge­nes Kö­nig­reich. Sie ma­chen et­was über die Hälf­te der Ta­mi­li­schen Be­völ­ke­rung aus, die heu­te auf et­wa drei Mil­lio­nen ge­schätzt wird, und sie sind Bür­ger von Sri Lan­ka. Un­ter ih­nen be­fin­den sich die mi­li­tan­ten Se­pa­ra­tis­ten, die ih­ren ei­ge­nen Staat wol­len, weil sie sich un­ter­pri­vi­le­giert füh­len oder weil sie es sind, das kann ich viel­leicht bes­ser be­ur­tei­len nach mei­ner Rei­se in den Nor­den.

1958 kam es zu schwe­ren Ras­sen­un­ru­hen und im Ok­to­ber des letz­ten Jah­res zu ziem­lich schwe­ren.

Die zwei­te Grup­pe der Ta­mi­len sind In­di­sche. Sie ka­men vor im­mer­hin 150 Jah­ren, als Plan­ta­gen­ar­bei­ter der Eng­län­der. Sie le­ben iso­liert in klei­nen Fa­mi­li­en­ge­mein­schaf­ten auf den Plan­ta­gen im Lan­des­in­nern und ha­ben an­de­re Pro­ble­me als die Se­pa­ra­tis­ten. Sie sind näm­lich seit der Un­ab­hän­gig­keit Sri Lan­kas staa­ten­los und als Fremd­kör­per be­trach­tet. Beim Ver­such, das Pro­blem der In­di­schen Ta­mi­len zu lö­sen, kam es un­ter der Re­gie­rung Band­ar­a­nai­ke zu ei­nem un­glaub­li­chen Men­schen­han­del:

Frau Band­ar­a­nai­ke traf sich mit Frau Gan­dhi und wur­de mit die­ser kuh­han­dels­ei­nig dar­über, dass sie 400 000 In­di­schen Ta­mi­len die Staats­bür­ger­schaft ge­ben wür­de, wenn sie da­für die rest­li­chen 600 000 nach In­di­en ab­schie­ben dür­fe. Ge­sagt ge­tan, man ging auf die Plan­ta­gen und stell­te die er­schro­cke­nen Leu­te vor die Al­ter­na­ti­ve. Es ent­schie­den sich we­ni­ger für In­di­en als die Re­gie­rung aus un­er­find­li­chen Grün­den er­war­tet hat­te. Und wie frei­wil­lig die Ent­schei­dung der We­ni­ge­ren war, weiss man nicht. Die Leu­te wur­den und wer­den heu­te noch ein­zeln ab­ge­scho­ben, die Fa­mi­li­en­ge­mein­schaf­ten wer­den aus­ein­an­der­ge­ris­sen. Über das Auf­fang­la­ger in Süd­in­di­en ist we­nig und nichts Gu­tes zu er­fah­ren. Bis heu­te ist Sri Lan­ka auf die­se Wei­se 300 bis 400 000 In­di­sche Ta­mi­len los­ge­wor­den.

Es gibt noch ei­ne drit­te Grup­pe Ta­mi­len: Die ver­städ­ter­ten, die in den sin­gha­le­si­schen Ge­bie­ten woh­nen. Sie sind meist ge­bil­det und ge­hö­ren der ge­ho­be­nen Mit­tel­schicht an und sind an ei­nem Staa­te Ila (Ta­mi­lisch für Sri Lan­ka) schon gar nicht in­ter­es­siert.

Thi­lo Hoff­mann gab mir Rat­schlä­ge für mei­ne Rei­se­rou­te und ver­mit­tel­te mir ein Au­to und ei­nen Fah­rer, der Eng­lisch, Sin­gha­le­sisch und Ta­mi­lisch spricht. Heu­te um zehn holt er mich ab.

Draus­sen kracht es im­mer noch. Ich wer­de schlecht schla­fen, den neu­en Zei­tryth­mus ha­be ich noch nicht im Leib. Ich wer­de heu­te an ei­nen Ba­de­ort fah­ren und erst mor­gen in den Nor­den. Schliess­lich sind heu­te zwei Fei­er­ta­ge.

Mit herz­li­chen Grüs­sen

Ihr

3. Brief

Pearl Be­ach Ho­tel, Be­ru­wa­la, den 1.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Ran­jit Hin­du­ra­ga­la ist ein Lie­ben­der. Ein hin­ge­ris­se­ner Be­wun­de­rer der Frau­en. Wenn er von ih­nen spricht, und das tat er, kaum hat­te ich mich in sei­nen Peu­geot ge­setzt, dann sucht er sei­ne Wor­te aus wie ein teu­rer Gold­schmied sei­ne Stern­s­ap­phi­re. Er be­schrieb mir das sin­gha­le­si­sche Schön­heits­ide­al der Frau. Nicht so dünn, wie wir das ger­ne hät­ten, aber auf kei­nen Fall dick (wie wir das meis­tens ha­ben, hät­te er ge­sagt, wenn er nicht von ei­ner so aus­er­le­se­nen Höf­lich­keit wä­re). Er mo­del­lier­te mir ei­ne Frau aus Wor­ten, die aus zar­ten Bie­gun­gen, Run­dun­gen, kaum wahr­nehm­ba­ren Er­he­bun­gen und küh­nen Schwün­gen die Pro­por­ti­on schlecht­hin er­gab. Ein Hauch von Be­dau­ern (oder war es Mit­leid mit mir?,) be­schlug sei­ne Stim­me, als er auf den Brauch zu spre­chen kam, dass die Braut un­be­rührt in die Ehe geht und von der Schwie­ger­mut­ter nur ak­zep­tiert wird, wenn sie die­ser nach­der Hoch­zeits­nacht auf ei­nem weis­sen Tuch den Be­weis ih­rer Jung­fräu­lich­keit er­bringt.

Für mich sei es un­vor­stell­bar, un­ter­stell­te er, dass ein sin­gha­le­si­sches Pär­chen jah­re­lang sich lie­ben kann, oh­ne sich auch nur ein ein­zi­ges Mal zu be­rüh­ren, aus­ser mit Wor­ten, Bli­cken und Ge­dan­ken.

Ran­jit Hin­du­ra­ga­la ist dann auch ei­ne Lie­bes­hei­rat ein­ge­gan­gen. Ganz ge­gen die Tra­di­ti­on, die ei­nem Sin­gha­le­sen ei­gent­lich vor­schreibt, ein Mäd­chen aus der glei­chen Kas­te, den glei­chen so­zia­len Ver­hält­nis­sen, so­gar aus der glei­chen Ge­gend, al­so Hill Coun­try oder Low Coun­try, heim­zu­füh­ren.

Er tat nichts von al­le­dem. Noch schlim­mer: Er hei­ra­te­te ei­ne Ma­lai­in und Mo­ham­me­da­ne­rin. Das be­deu­te­te, dass er von sei­ner Fa­mi­lie ent­erbt und aus der Kas­te, auch noch der obers­ten, aus­ge­stos­sen wur­de. Es scheint ihm aber nicht schlecht zu ge­hen. Er hat sein ei­ge­nes Rei­se­un­ter­un­ter­neh­men. Sol­che Rei­sen wie mit mir un­ter­nimmt er nur sel­ten und nur als Hob­by und nur an be­son­de­re Or­te und nur, weil er nie nein sa­gen kann.

Die Kas­ten, üb­ri­gens, stam­men aus der Zeit der sin­gha­le­si­schen Kö­nig­rei­che. Der Kö­nig hat­te sei­ne Bau­ern, die Go­y­ga­ma, die obers­te Kas­te. Dann hat­te er Schrei­ner (Wad­dy), Gold- und Sil­ber­schmie­de (Bad­dal), Fi­scher (Ka­ra­we), vier Kas­ten, über de­ren Rang­fol­ge man von Ge­gend zu Ge­gend an­de­rer Mei­nung is. Dann ka­men die Hand­lan­ger (Pad­dull) und zu­un­terst die Wä­scher (Rad­da). Und schliess­lich wa­ren da noch die Aus­ge­stos­se­nen, die nicht am Dorf­brun­nen trin­ken und in kei­ner fes­ten Be­hau­sung le­ben durf­ten.

Bis vor 20 Jah­ren spiel­ten die­se Kas­ten noch ei­ne ent­schei­den­de Rol­le. Heu­te nicht mehr, sagt Ran­jit Hin­du­ra­ga­la.

Wir fuh­ren auf der Küs­ten­stras­se ge­gen Sü­den und such­ten ein Ho­tel­zim­mer für ei­ne Nacht. Al­les war aus­ge­bucht, über­bucht. Sri Lan­ka hat zu we­nig Ho­tel­bet­ten. In den bei­den letz­ten Re­gie­rungs­jah­ren der SLFP wur­den kaum Ho­tels ge­baut. Und in den ers­ten bei­den der UNP auch kaum. Jetzt, wo die Be­wil­li­gun­gen wie­der er­teilt wur­den, sind die Kos­ten so hoch ge­stie­gen, dass sich kei­ner mehr ge­traut. Man rech­net in­zwi­schen mit Er­stel­lungs­kos­ten von et­wa 90 000 Mark pro Zim­mer. Das ist selbst für eu­ro­päi­sche Ver­hält­nis­se enorm. Die­se Si­tua­ti­on nut­zen die be­stehen­den Ho­tels zum Teil scham­los aus. Die Ho­tels an der Ost­küs­te ha­ben vom letz­ten zum nächs­ten Som­mer Preis­er­hö­hun­gen von 60% an­ge­kün­digt. Den Haupt­mo­nat Au­gust neh­men sie da­von aus. Dann wol­len sie noch ein we­nig hö­her rein.

Ich ha­be von Ho­tels ge­hört, die in der letz­ten Sai­son 50% Ge­winn er­zielt ha­ben. Und das mit 50% Be­le­gung.

Durch ei­ne Zu­sam­men­ket­tung glück­li­cher Zu­fäl­le ha­be ich nun doch noch die­ses Bun­ga­low be­kom­men, in ei­nem Ho­tel, das be­stimmt schon bes­se­re Zei­ten aber be­stimmt nie bes­se­re Ge­schäf­te ge­se­hen hat.

Ich war ein biss­chen ba­den. Am Strand sind Schwe­den (al­le sei­en sie ver­rückt und trän­ken sie zu viel und hät­ten sie ge­spal­te­ne Zun­gen, sag­te mir ein Ka­ta­mar­an­fah­rer. Heu­te: „Mor­gen Ka­ta­ma­ran, ganz si­cher.“ Mor­gen Ka­ta­ma­ran, ganz si­cher.“), Schwei­zer und Deut­sche. Ich war der Ala­bas­terns­te von al­len, mit ein paar ro­ten Druck­stel­len, dort wo vor­her das Hemd in der Ho­se ge­steckt hat­te. Gott, was sind wir doch für häss­li­che Men­schen.

Über mir wir­belt ein Ven­ti­la­tor den dün­nen Rauch­fa­den der Mos­ki­to­s­pi­ra­le durch­ein­an­der. Mor­gen früh um sechs fah­ren wir nach Jaff­na, der Haupt­stadt der Sri Lan­ka Ta­mi­len. Et­wa zehn Stun­den von hier. Don Ran­jit Hin­du­ra­ga­la fährt mit ge­misch­ten Ge­füh­len. Er ist seit drei Jah­ren nicht mehr dort ge­we­sen.

Eben hat es zu reg­nen be­gon­nen. Ich schwör’s. 

Herz­li­che Grüs­se

Ihr

4. Brief

Tis­sa­we­wa Rest House, Anu­radha­pura, den 2.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Stel­len Sie sich vor, 270 Ki­lo­me­ter durch ei­ne Fuss­gän­ger­zo­ne zu fah­ren, die knapp dop­pelt so breit ist wie Ihr Au­to, und auf die sich schrott­rei­fe Au­to­bus­se ver­irrt ha­ben, die al­le paar Me­ter ei­nen Halt ma­chen oder bun­ten brei­ten Last­wa­gen aus­wei­chen. Wir fuh­ren fast den gan­zen Weg durch Ko­kos­pal­men. Bei vie­len wa­ren die Kro­nen durch Sei­le mit­ein­an­der ver­bun­den. Das sind die luf­ti­gen Fel­der der Tod­dy­bau­ern. Tod­dy ist der Palm­wein Sri Lan­kas. Er wird aus dem Nek­tar der Knos­pen der Ko­kos­pal­men ge­won­nen. Die Knos­pe wird zu­sam­men­ge­bun­den, da­mit sie nicht auf­blüht, zwei­mal am Tag neu an­ge­schnit­ten und mit ei­nem Horn ge­klopft. In der Zwi­schen­zeit läuft der Nek­tar in ein Ge­fäss. Der Tod­dy­bau­er ar­bei­tet mor­gens und abends in sei­nen Fel­dern. Da­mit er nicht je­de Pal­me ein­zeln er­klet­tern muss, hat er die Sei­le ge­spannt. Im­mer zwei über­ein­an­der. Ei­nes für die Füs­se, ei­nes für die Hän­de. So spa­ziert er von Kro­ne zu Kro­ne.

Der Nek­tar wird zu Si­rup ein­ge­kocht und ver­go­ren. Das, gibt den Tod­dy. Und wenn man die­sen brennt und das Ge­brann­te lan­ge ge­nug la­gert, hat man Ar­rack. Bei­des Leib­ge­trän­ke der Sri Lan­ker.

Eben kam ei­ne Be­schwer­de über mein Ge­klap­per. Ich muss un­ter­bre­chen.

Sub­has Ho­tel, Jaff­na, den 3.1.80 

Lie­ber Rolf Win­ter,

Ges­tern kam ich nicht ein­mal da­zu, Ih­nen zu sa­gen, war­um wir auf un­se­rer Fahrt nach Jaff­na in Anu­radha­pura Sta­ti­on mach­ten:

Ers­tens we­gen der schö­nen Bil­der, die Bru­no Bar­bey dort ge­macht hat. Und zwei­tens, weil die­ser Ort be­deut­sam ist für die Be­zie­hung zwi­schen Sin­gha­le­sen und Ta­mi­len im heu­ti­gen Sri Lan­ka.

Anu­radha­pura war die Haupt­stadt des gleich­na­mi­gen Kö­nig­rei­ches und des sin­gha­le­si­schen Bud­dhis­mus. Dort wächst der Bo-Baum, das ers­te bud­dhis­ti­sche Hei­lig­tum Sri Lan­kas. Im drit­ten Jahr­hun­dert vor Chris­tus wur­de der sin­gha­le­si­sche Kö­nig De­va­n­am­pi­ya­tis­sa von Ma­hin­da, dem Sohn des in­di­schen Kö­nigs As­o­ka zum Bud­dhis­mus be­kehrt. Als die­ser As­o­ka bat, ihm et­was zu ge­ben, das er an­be­ten konn­te, über­brach­te ihm des­sen Toch­ter den Trieb ei­nes Bo-Bau­mes: (Blät­ter sym­bo­li­sie­ren das Ver­lan­gen, es trägt nur we­nig Früch­te in­mit­ten des dich­ten Lau­bes. Das Ver­lan­gen, das man über­win­den muss, um das Nir­wa­na zu er­rei­chen, den Zu­stand des Nicht-Wie­der­ge­bo­ren-Wer­den-Müs­sens.) Der hei­li­ge Baum wuchs und ge­dieh. Und Anu­radha­pura mit ihm. Bis es im elf­ten Jahr­hun­dert von der Ar­mee des ta­mi­li­schen Kö­nigs El­la­ra er­obert und ge­schleift wur­de. Dass die Ta­mi­len die hei­li­ge Stadt der Sin­gha­le­sen in Schutt und Asche ge­legt ha­ben, ist bis heu­te nicht aus den Köp­fen und Schul­bü­chern ver­schwun­den. Die bei­den Ge­gen­spie­ler, der sin­gha­le­si­sche Kö­nig Du­tu­ge­munu und der ta­mi­li­sche El­la­ra sind die Hel­den der be­tref­fen­den eth­ni­schen Grup­pen ge­wor­den. Und die bei­den Da­ga­bas, die Bru­no fo­to­gra­fier­te, wie sie schön und er­ha­ben aus dem Mor­gendunst wach­sen, wie Lo­tus­blü­ten aus dem Sumpf, sind ei­ne un­über­seh­ba­re Er­in­ne­rung dar­an. Sie sind die Gröss­te und die Zweit­gröss­te Da­ga­ba der Welt.

Das al­les, und dass die Ta­mi­len geld­gie­rig sei­en, macht sie nicht be­son­ders be­liebt bei den Sin­gha­le­sen. Und ich kann mir nicht vor­stel­len, dass man sie das nie hat spü­ren las­sen.

Auf der Stras­se nach Jaff­na war fast kein Ver­kehr. Aber wir ka­men doch sehr lang­sam vor­wärts: Kuh­her­den, Hun­de, die mit­ten auf der Stras­se schlie­fen, und die Lö­cher, die die eben zu En­de ge­gan­ge­ne Re­gen­zeit in die Stras­se ge­fres­sen hat­te. Da­zu kam, dass es Ran­jit, je nä­her wir dem Ta­mil-Ge­biet ka­men, des­to we­ni­ger ei­lig hat­te. So schien es mir we­nigs­tens. Ich ha­be auch den Ein­druck, dass es län­ger als drei Jah­re her ist, dass er hier war. Und dass über die Ge­gend der Aus­nah­me­zu­stand ver­hängt war, und dass uns im­mer mehr Mi­li­tär be­geg­ne­te, wirk­te auch nicht sehr be­ru­hi­gend.

Das Land wur­de lang­sam fla­cher, der Wald lich­te­te sich, die Bäu­me wur­den nied­ri­ger, die Ko­kos­pal­men sel­te­ner. Da­für sah man im­mer mehr Pal­mei­ra-Pal­men. Ein paar Mei­len

vor dem Ele­phant-Pass, dem Damm, der den äus­sers­ten Nor­den mit dem Sü­den ver­bin­det, nah­men wir zwei Sol­da­ten auf. Sie er­zähl­ten uns, dass der Aus­nah­me­zu­stand vor drei Ta­gen auf­ge­ho­ben wor­den sei. All es sei ru­hig. Sie muss­ten zum Check­point, der am Ele­phant-Pass er­rich­tet wor­den war. Wenn es nach den Se­pa­ra­tis­ten gin­ge, wä­re dort die Gren­ze des Staa­tes Ila.

Ich kann äus­ser­lich kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Ta­mi­len und Sin­gha­le­sen ent­de­cken. Aus­ser den, dass die Frau­en nach Sit­te der Hin­dus ei­nen Punkt auf der Stir­ne tra­gen. Ei­nen schwar­zen, wenn sie le­dig, ei­nen gros­sen ro­ten, wenn sie ver­hei­ra­tet sind. Aber man sieht nicht vie­le Frau­en auf der Stras­se. Und die Sicht in die Vor­gär­ten ist ei­nem durch Zäu­ne aus Palm­blät­tern ver­wehrt. Das ist der au­gen­fäl­ligs­te Un­ter­schied den Dör­fern im Sü­den: Man sieht sie nicht.

Jaff­na ist ei­ne lau­te, hef­ti­ge, bun­te Stadt. Wir bum­mel­ten durch den Ba­zar (weit und breit kei­ne Tou­ris­ten), und ich ass mein ers­tes Cur­ry mit der Hand und von ei­nem grü­nen Ba­na­nen­blatt. Es war auch mein bes­tes. Und es ist auch schon zwölf Stun­den her und bis jetzt ist noch al­les in Ord­nung.

Über die Un­ru­hen vor ei­nem Jahr ist nichts zu er­fah­ren. Auch der äl­te­re Herr, der uns die Um­ge­bung von Jaff­na

zeigt, er­zählt nur ei­ne kon­fu­se Ge­schich­te, nach der die jun­gen Män­ner, die sich die Haa­re nicht schnit­ten, von der Po­li­zei schi­ka­niert wor­den sei bis sich de­ren Freun­de zu­sam­men­ge­tan hät­ten und die Po­li­zei an­grif­fen. Und als wir an den Rui­nen ei­nes gros­sen Dor­fes vor­bei­fuh­ren, mur­mel­te er et­was von Kas­ten­un­ru­hen. Und als wir bei ei­nem La­den in der Nä­he ei­nes ab­ge­le­ge­nen Tem­pels an­hal­ten und ei­nen Tee trin­ken woll­ten, sträub­te er sich. Als wir vor­bei wa­ren, sag­te er, das sei ein schlech­ter Platz. Da sei ein Bür­ger­meis­ter von Jaff­na er­mor­det wor­den. (Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit: TULF, Ta­mi­li­sche Ver­ei­nig­te Be­frei­ungs­front.) Und als ich frag­te war­um, sag­te er: „Wir re­den hier nicht ger­ne über Po­li­tik. Wenn die Po­li­ti­ker zu uns kom­men und sa­gen, dass wir sie wäh­len sol­len, sa­gen wir im­mer zu al­len ja. Am Schluss ent­schei­den wir dann sel­ber. So be­kommt man kei­nen Är­ger.“

Da­für war er ge­sprä­chi­ger, als ich ihn über die Hei­rats­bräu­che aus­frag­te. Al­le Bräu­te wür­den vom Va­ter des Bräu­ti­gams aus­ge­sucht. Die Braut­leu­te hät­ten zu ge­hor­chen, die El­tern wuss­ten bes­ser als die Jun­gen, wer zu­sam­men­pas­se. Wer sich dem wi­der­set­ze, wür­de aus­ge­stos­sen und ge­he zu­grun­de. Von hun­dert Ehen sei­en nur zwei Lie­bes­hei­ra­ten. Die Mäd­chen müs­sen auch un­be­rührt in die Ehe ge­hen. Aber die sin­gha­le­si­sche Me­tho­de mit dem weis­sen Tuch in der Hoch­zeits­nacht bräuch­ten sie nicht. Sie hät­ten ei­ne, bei der man nicht schum­meln kön­ne: Die Töch­ter von der Pu­ber­tät an nie mehr al­lei­ne aus dem Haus las­sen.

Der Mann hat­te 36 Jah­re in ei­ner Bank in Co­lom­bo ge­ar­bei­tet. Die Fa­mi­lie blieb im Nor­den, und er be­such­te sie je­den Mo­nat. Als er jün­ger war zwei­mal. Als er es nicht mehr so nö­tig hat­te, ein­mal. So le­ben sehr vie­le Män­ner aus der Ge­gend. Jetzt ist er pen­sio­niert und ar­bei­tet ge­gen Bett und Es­sen in die­sem Ho­tel. Er kön­ne nicht den gan­zen Tag zu­hau­se sit­zen und sei­ne Frau und sei­ne Kin­der an­glot­zen.

Un­ter­wegs tra­fen wir auf ei­nen Trau­er­zug. Tromm­ler führ­ten ihn an, da­hin­ter tru­gen vier Män­ner die Bah­re, die von ei­nem weis­sen Tuch ver­deckt war, da­hin­ter ka­men Män­ner, die in klei­nen Scha­len Op­fer­ga­ben hiel­ten, da­hin­ter die Trau­er­gäs­te, al­le in weiss. Frau­en wa­ren kei­ne da­bei. Sie wa­ren zu­hau­se und rei­nig­ten das Haus und be­rei­te­ten ei­ne Mahl­zeit vor. Die letz­te für die nächs­ten fünf Ta­ge. In der Trau­er­zeit brin­gen die Nach­barn das Es­sen. Wenn es nicht ge­ra­de Frei­tag oder Sams­tag ist, und wenn die Ver­wand­ten zur Ver­fü­gung sind, kre­mie­ren die Ta­mi­len ih­re To­ten noch am Ster­be­tag. An­dern­falls bal­sa­mie­ren sie sie ein bis zur Kre­mie­rung.

Die Tromm­ler schlu­gen ei­nen schnel­len Takt. Die Män­ner gin­gen rasch, wie wenn sie die Sa­che schnell hin­ter sich brin­gen woll­ten. Wir fuh­ren in ge­büh­ren­dem Ab­stand hin­ter­her. Aber der äl­te­re Herr dräng­te Ran­jit zu über­ho­len. Er sol­le ru­hig hu­pen. Als er end­lich

wi­der­wil­lig und ganz kurz hup­te, dreh­te sich der letz­te um, rann­te zur Spit­ze des Zu­ges, di­ri­gier­te die Tromm­ler, die Lei­chen­trä­ger, die Trau­ern­den von der Stras­se. Als wir pas­sier­ten, lä­chel­ten sie uns ver­le­gen an. Wie wenn sie sich da­für ent­schul­di­gen woll­ten, dass sie zu ver­tieft wa­ren, um zu hö­ren, dass wir we­gen ih­nen un­se­re Fahrt ver­lang­sa­men muss­ten.

Mit herz­li­chen Grüs­sen

Ihr

5. Brief

Ir­gend­ein Rest­haus im Dun­keln, zwi­schen Jaff­na und Mi­hinta­le, den 4.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Ges­tern fuh­ren wir al­so zur In­sel Delft, wie ich es mir in den Kopf ge­setzt hat­te, als ich hör­te, dass es dort wil­de Po­nies gibt, weil je­mand (wer, fin­de ich noch her­aus) ir­gend­wann (wann, auch) aus ir­gend­ei­nem Grund (aus wel­chem, auch) dort ei­ne Pfer­de­r­anch ge­macht und ver­las­sen hat.

Wir fuh­ren von Jaff­na ge­gen Nor­den. Nach ein paar Mei­len hör­te das Fest­land auf und die Stras­se führ­te über lan­ge Däm­me von In­sel zu In­sel. Im rech­ten Win­kel zu den Däm­men wa­ren in­ge­niö­se Fisch­zäu­ne ge­spannt, de­ren ein­zi­ger Aus­weg in ei­ner un­ent­rinn­ba­ren Reu­se en­de­te. Über uns kreis­ten Raub­vö­gel, die sie hier Hawk Ea­gle, nen­nen. Ich wer­de mich er­kun­di­gen, wie man sie auf Deutsch nennt.

Auf der letz­ten In­sel en­de­te die Stras­se an ei­nem Boots­steg. Wir lies­sen den Wa­gen ste­hen und stie­gen in den ros­ti­gen Kahn, der ein­mal täg­lich nach Delft fährt. Die Schiffs­kar­te kos­te­te 50 Cents, et­wa vier Pfen­nig, für ei­ne im­mer­hin stün­di­ge Über­fahrt. Das ist so­gar in den Au­gen der Ein­hei­mi­schen we­nig, die sich sonst, auch wenn sie zur Mit­tel­klas­se ge­hö­ren, nichts leis­ten kön­nen, was für ei­nen Tou­ris­ten, der zu Hau­se nicht ein­mal zur Mit­tel­klas­se ge­hört, ein Klacks ist. Ran­jit, im­mer­hin Ma­na­ging Part­ner ei­nes Rei­se­bü­ros, Un­ter­neh­mer und Mit­glied des Li­ons Club, nimmt sich ein Mo­nats­ge­halt von et­wa acht­zig Mark. Dar­auf kom­me ich spä­ter, wenn ich auf­ge­hört ha­be, mich um das The­ma Tou­ris­mus zu drü­cken.

Delft ist ein top­fe­be­nes Ko­ral­len­riff, et­wa 300 Qua­drat­ki­lo­me­ter gross. Es ist am Ost­ende und am Westende be­sie­delt. Im In­nern wohnt nie­mand, denn nur an der Küs­te gibt es Süss­was­ser. Die In­sel hat et­wa 700 Be­woh­ner, ei­nen Bus, ei­nen Po­li­zei­jeep, ei­nen Trak­tor und ei­nes die­ser Zwei­räd­ri­gen Land­wirt­schafts­fahr­zeu­ge mit An­hän­ger. Da­mit mach­ten wir ei­ne holp­ri­ge In­sel­rund­fahrt.

Im In­nern sieht die In­sel aus wie te­xa­ni­sche Step­pe. Und die wil­den Po­nies glei­chen wil­den Mus­tangs. Und Kuh­her­den gibt es auch. Und zwei Hir­ten, die wir sa­hen, wa­ren be­rit­ten. Und der Teu­fel soll mich ho­len, wenn nicht ei­ner ein Las­so schwang. Und bei al­le­dem hät­te man die Süd­spit­ze In­di­ens se­hen kön­nen, wenn es kla­rer ge­we­sen wä­re.

Am West­ufer lag ein Fi­scher­dorf. Nied­ri­ge Hüt­ten aus Palm­blät­tern, Sei­te an Sei­te, wie Zel­te. Zehn Me­ter von der gut­mü­ti­gen Bran­dung ent­fernt. Wie im Pro­spekt für Aben­teu­er­fe­ri­en, nur dass die Leu­te ar­bei­te­ten. Sie hol­ten die Net­ze ein, sie sas­sen im Schat­ten ei­nes Palm­we­del-Pa­ra­vans und schupp­ten hun­der­te von klei­nen Sal­men, wenn ich rich­tig ge­hört ha­be, die sie ein­pö­kel­ten und zum Trock­nen an die Mit­tags­son­ne leg­ten, die so heiss und weiss war, dass al­le Far­ben ver­schwan­den.

Zwei jun­ge Män­ner aus dem Dorf wa­ren mit uns ge­kom­men. Sie ar­bei­te­ten in Co­lom­bo und wa­ren nur für ein paar Ta­ge hier. Sie konn­ten mir et­was mehr über das er­zäh­len, was al­le Welt das Pro­blem von vor ei­nem Jahr nennt. Es hat sich of­fen­bar um ei­nen Auf­stand der ta­mi­li­schen Ju­gend für die Un­ab­hän­gig­keit ge­han­delt. Oder um die Vor­be­rei­tun­gen da­für. Ich komm schon noch dar­auf. Auf die an­de­re Fra­ge, ob sie das Mäd­chen hei­ra­ten wür­den, das ih­nen der Va­ter vor­schlägt, nick­ten sie bei­de. Sie könn­ten es sich nicht leis­ten, auf das Er­be und die Un­ter­stüt­zung der Fa­mi­lie und auf die Mit­gift der Braut zu ver­zich­ten.

Am Nach­mit­tag nah­men wir das Schiff zu­rück und mach­ten uns auf den Weg an die Ost­küs­te. Ran­jit war ein we­nig auf­ge­wühlt. Man hat­te ihn sehr ab­wei­send be­han­delt. Oder viel­leicht ein­fach nor­mal, was für ei­nen, der sich die sin­gha­le­si­sche Herz­lich­keit ge­wöhnt ist, sehr ab­wei­send wirkt.

Wir hat­ten uns in der Zeit ver­schätzt und wur­den von der Dun­kel­heit über­rascht. Das ist nicht an­ge­nehm auf die­ser Stras­se. Es soll in letz­ter Zeit bis auf die Zäh­ne be­waff­ne­te We­ge­la­ge­rer ge­ben. Ich kann es zwar nicht recht glau­ben. Aber es hat mich im­mer­hin er­staunt, was der Po­li­zei­chef der Stadt, in der es kei­ne Zim­mer mehr gab, al­les un­ter­nom­men hat, um uns un­ter­zu­brin­gen.

Heu­te ist al­les sehr stil­echt: Die Lam­pe in mei­nem Zim­mer ist ein Ven­ti­la­tor. Un­ter­ar­me und Na­se sind son­nen­ver­brannt. Auf dem rech­ten Ober­arm, der ges­tern Nacht zu na­he am Mos­ki­to­netz war, bren­nen acht Sti­che, Die Du­sche, auf die ich mich ge­freut hat­te, rie­selt wie ei­ne Pi­pet­te. Die Schreib­ma­schi­ne macht Buch­sta­ben­ab­stän­de, wie es ihr passt.

Nur Mar­le­ne Diet­rich ist noch nicht fra­gen ge­kom­men, ob noch Gin in mei­ner Fla­sche sei.

Herz­li­che Grüs­se

Ihr

6. Brief

Ni­la­ve­li Be­ach Ho­tel, Ni­la­ve­li, den 6.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Seit ges­tern hält mich sanft und süss und nach­gie­big der Lu­xus um­fan­gen. Ich sit­ze in mei­nem Zim­mer, des­sen Luft ein star­ker aber lei­ser Ven­ti­la­tor in der ge­nau rich­ti­gen Be­we­gung hält. Ich sit­ze mit dem Ge­sicht zum Fens­ter und rau­che im­por­tier­te eng­li­sche Zi­ga­ret­ten. Wenn ich auf den Knopf der Klin­gel drü­cken wür­de, wä­re au­gen­blick­lich ei­ner die­ser laut­lo­sen, ver­ständ­nis­vol­len jun­gen Män­ner im rot­schwarzen Ba­tik-Sa­rong da, und ich könn­te bei ihm ei­nen Drink be­stel­len oder De­villed Prawns oder ei­ne Ko­kos­nuss. Zwi­schen mei­nem Pult und dem Sand liegt nur mei­ne klei­ne eben­erdi­ge Ve­ran­da, auf der zwei be­que­me Korb­ses­sel ste­hen. Vor mir ein schat­ti­ges Wäld­chen aus selt­sa­men Bäu­men. Dar­in ste­hen ver­streut weis­se Holz­ti­sche und Stüh­le. Wo es geht, hän­gen Hän­ge­mat­ten. Manch­mal schnat­tern un­ver­mit­telt und auf­ge­regt schil­lern­de Vö­gel im wäch­ser­nen Blät­ter­werk. Schma­le, seit ei­ni­gen Mi­nu­ten er­leuch­te­te Plat­ten­we­ge füh­ren in an­mu­ti­gen, zu­fäl­li­gen Win­dun­gen am Swim­ming­pool vor­bei, in dem wahr­schein­lich nor­ma­ler­wei­se lau­ter schö­ne Men­schen schwim­men, zum na­hen Strand. Ich kann die Phos­phor­bran­dung se­hen und hö­ren. Swisch, swisch über­tönt die sanf­te Mu­sik aus dis­kre­ten Laut­spre­chern. Mor­gen fah­ren wir wei­ter, Eh­ren­wort.

Es ist Re­gen­zeit an der Ost­küs­te. Dar­um sind wir auch prak­tisch die ein­zi­gen Gäs­te. Nur spielt auch hier das Wet­ter ver­rückt: Die Son­ne scheint und ei­ne lieb­li­che Bri­se weht. Wenn das die Aber­tau­sen­de an der Süd­west­küs­te wüss­ten. In drei Ta­gen wä­ren sie hier, hät­ten den Koch zu Gu­lasch und Pom­mes Fri­tes ge­zwun­gen, wür­den die freund­li­chen Strand­händ­ler wie Mos­ki­tos ver­scheu­chen und über die Prei­se schimp­fen.

Hier Das ist jetzt näm­lich so der Stil an der Süd­west­küs­te, seit die­se ver­mark­tet wird. (An der Ost­küs­te ver­sucht man das durch ei­nen Ho­tel-Bau­stopp zu ver­hin­dern.) Vor sie­ben Jah­ren, als ich hier war, und als Sie hier wa­ren erst recht, wa­ren die Leu­te dort an­ders. Freund­lich aus pu­rem Ver­gnü­gen, arg­los und un­be­rech­nend. Sie in­ter­es­sier­ten sich für ei­nen und wa­ren glück­lich, wenn man sich für sie in­ter­es­sier­te. Aber seit je­den Win­ter Heer­scha­ren von haupt­säch­lich sol­chen Leu­ten die Küs­te be­la­gern, die sich in die­sem Land ein­zig und al­lein für die Tat­sa­che in­ter­es­sie­ren, dass sie sich hier den Arsch bräu­nen kön­nen, wäh­rend die da­heim sich den­sel­ben ab­frie­ren, ha­ben die Men­schen hier da­zu­ge­lernt. Sie ver­gel­ten In­ter­es­se­lo­sig­keit mit Auf­dring­lich­keit, Un­freund­lich­keit mit Schein­hei­lig­keit, Klein­lich­keit mit Wu­cher. Sie stam­men aus ei­ner Kul­tur, in der das Pa­tri­ar­chat herrsch­te. Sie wa­ren sich ge­wohnt, den we­ni­gen Rei­chen mit Be­wun­de­rung und Ver­eh­rung zu be­geg­nen, weil sie wuss­ten, dass es für die­se ei­ser­nes Ge­setz war, ih­nen zu hel­fen, wenn es ih­nen schlecht ging und sie bei Miss­ern­ten durch­zu­füt­tern. Jetzt ha­ben sie ge­merkt, dass von den neu­en Su­per­rei­chen, die als Speng­ler­meis­ter in der Stun­de so­viel ver­die­nen, wie sie im Mo­nat nicht, nichts von an­nä­hernd die­ser Art zu er­war­ten ist, dass sie in die­ser un­er­schwing­li­chen Welt, an den schöns­ten Or­ten ih­rer In­sel nicht er­wünscht sind.

Ich weiss schon, ich sit­ze hier im schie­ren Lu­xus und schrei­be Eli­tä­res nie­der. Ich has­se es auch, wenn ei­ner sagt, der ver­damm­te Mas­sen­tou­ris­mus hat mir Aca­pul­co ver­saut. Ich mei­ne ja nur: Die Lieb­lo­sig­keit und Ge­dan­ken­lo­sig­keit ei­nes Tei­les der ge­wiss wohl­mei­nen­de, im Reich­sein ja un­ge­üb­ten Gäs­te in die­sem wun­der­schö­nen Land hat schon jetzt viel Scha­den an­ge­rich­tet.

Mor­gen fah­ren wir nach Kan­dy, wo Bru­no das Be­ra­he­ra fo­to­gra­fiert hat. Dar­über möch­te ich mehr er­fah­ren. Und über das gros­se Be­wäs­se­rungs­pro­jekt, an dem dort oben ge­ar­bei­tet wird.

Herz­li­che Grüs­se von Ih­rem Sri Lan­ka Kor­re­spon­den­ten

7. Brief

Bei Mr. und Mrs. Block, Kan­dy, den 7.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Wir er­reich­ten Kan­dy schon ge­gen Mit­tag. Wir fuh­ren bei der Him­mels­fes­tung Si­gi­ri­ya vor­bei, dem Fel­sen, der auf Bru­nos Bil­dern aus­schaut wie ein rie­si­ges, auf ewig im Dschun­gel ge­stran­de­tes Schlacht­schiff.

Si­gi­ri­ya war im fünf­ten Jahr­hun­dert 18 Jah­re lang die atem­be­rau­bends­te Stadt der In­sel. Man be­trat sie durch den Ra­chen ei­nes gi­gan­ti­schen Lö­wen, von dem heu­te noch die stei­ner­nen Pran­ken zu se­hen sind, und ge­lang­te über ei­ne Ga­le­rie, die sich am Fels em­por­wand zum Gip­fel, mit sei­nen Pa­läs­ten, Tem­peln, Gär­ten und Tei­chen. Die Stadt war von Kö­nig Kas­s­a­pa er­baut wor­den, der sei­nen Va­ter, Kö­nig Dha­tu­se­na um­ge­bracht hat­te und es dann vor­zog, Anu­radha­pura zu ver­las­sen und sein Reich vom Fel­sen des Lö­wen aus zu re­gie­ren. Sein Halb­bru­der, Mog­galla­na, war näm­lich nach In­di­en ge­flüch­tet, um dort ei­ne Ar­mee auf­zu­stel­len. Zur gros­sen Schlacht zwi­schen den bei­den kam es nicht. Es heisst, dass Kas­s­a­pas Ar­mee ge­flo­hen sei, weil sie es als Zei­chen zum Rück­zug auf­fass­te, als die­ser mit sei­nem Ele­fan­ten ei­nem Sumpf aus­wich. Um der Ge­fan­gen­nah­me zu ent­ge­hen, soll Kas­s­a­pa sich die Keh­le durch­schnit­ten ha­ben. Das war das En­de von Si­gi­ri­ya. Nur die be­rühm­ten Fres­ken der üp­pi­gen jun­gen Da­men, die so schön sind, dass es egal ist, dass man ih­re Be­deu­tung nicht kennt, sind üb­rig ge­blie­ben.

Die Stras­se nach Kan­dy stieg sach­te an durch ei­ne frucht­ba­re ver­schwen­de­ri­sche Land­schaft. Ei­ne Fahrt durch ei­nen rie­si­gen bo­ta­ni­schen Gar­ten. Pad­dy-Fel­der, Ka­kao-Plan­ta­gen, Kaf­fee­stau­den, Ko­kos­pal­men, die von Pfef­fer­ran­ken um­schlun­gen sind. Den gan­zen Weg säu­men Ge­würz­gär­ten, drei­spra­chig be­schil­dert ma­chen sie sich die Tou­ris­ten ab­spens­tig.

So­gar Do­nald Duck, goss und bunt und lus­tig, muss als Blick­fang her­hal­ten.

Die letz­te Haupt­stadt der Kö­ni­ge von Kan­dy ist nie er­obert wor­den. Kö­nig Sri Vi­kra­ma Ra­jah Singha, der aus Angst vor sei­nen kol­la­bo­ra­ti­ons­be­rei­ten Un­ter­ta­nen als Ge­fan­ge­ner in sei­nem ei­ge­nen Pa­last leb­te, über­gab die Stadt 1815 den Bri­ten, un­ter der Be­din­gung, dass sie den Bud­dhis­mus und die In­sti­tu­tio­nen von Kan­dy schüt­zen und er­hal­ten. Die­ser Kon­ven­ti­on ha­ben es die Tau­sen­de von Tou­ris­ten zu ver­dan­ken, dass ih­nen je­des Jahr ein der­art pom­pö­ses Pe­ra­he­ra be­schie­den ist.

Die Pe­ra­he­ra be­steht aus ei­ner Rei­he von Pro­zes­sio­nen, Ri­ten, Fei­ern und Fes­ten. Sie fin­det im Ju­li statt und dau­ert zehn Ta­ge. Ihr Hö­he­punkt ist die Pro­zes­si­on, in der auf ei­nem ge­schmück­ten Ele­fan­ten ei­ne Nach­bil­dung der Scha­tul­le mit der hei­li­gen Zahn­re­li­quie mit­ge­führt wird. Von da­her stam­men Bru­nos Fo­tos von ge­schmück­ten Ele­fan­ten. Ich kann nicht gut dar­über schrei­ben, weil ich es nicht er­lebt ha­be. Aber ich weiss ge­nug für Bild­un­ter­schrif­ten in je­der ge­wünsch­ten Län­ge.

Die rich­ti­ge Re­li­quie, ein Zahn von Lord Bud­dha, be­fin­det sich im Dala­da Ma­li­ga­wa, im Tem­pel des hei­li­gen Zahns, ei­nem klei­nen, kunst­voll ge­schmück­ten Ge­bäu­de, das von ei­nem im­po­san­te­ren, grös­se­ren und neue­ren (17. Jahr­hun­dert) um­ge­ben ist. Die Scha­tul­le, in der die Re­li­quie auf­be­wahrt wird, die im vier­ten Jahr­hun­dert im Haar ei­ner Prin­zes­sin von In­di­en nach Kan­dy ge­schmug­gelt wur­de, ist hin­ter di­cken Tü­ren ver­schlos­sen, die drei­mal am Tag für die Gläu­bi­gen ge­öff­net wer­den. Das heisst, heut­zu­ta­ge vor al­lem für die Un­gläu­bi­gen. Wenn näm­lich die drei Pries­ter mit ih­ren drei Schlüs­seln fei­er­lich die drei Schlös­ser auf­schlies­sen, dann war­ten schon ein paar hun­dert Tou­ris­ten, die ei­gens da­für her­ge­fah­ren wor­den sind, ei­nen Blick auf die Scha­tul­le wer­fen zu kön­nen. In ei­nem der wich­tigs­ten Hei­lig­tü­mer des Bud­dhis­mus herrscht die At­mo­sphä­re ei­ner Tran­sit­hal­le beim Auf­ruf ei­nes Jum­bo-Char­ters nach Las Pal­mas. Da­ge­gen kom­men tau­send Räu­cher­stäb­chen, Jas­min- und Tem­pel­blü­ten nicht an. Ran­jit, der als from­mer Bud­dhist ein Blu­men­op­fer dar­brach­te, war trau­rig und zwei­fel­te ei­nen Au­gen­blick an sei­nem Be­ruf.

Die meis­te Zeit in Kan­dy ver­brach­te ich da­mit, In­for­ma­tio­nen über das Ma­ha­vel­li Pro­jekt zu fin­den. Das Pro­jekt will mit dem Was­ser des Ma­ha­vel­li­flus­ses 900 000 ac­res Land, 90%  da­von Pad­dy­fel­der, be­wäs­sern. 246 000 ac­res sind schon be­wäs­sert, seit Jahr­hun­der­ten zum Teil, der Rest soll nach dem Wil­len der Re­gie­rung schon 1983 so­weit sein. Das ist er­staun­lich, zu­mal dies 17 Jah­re frü­her als ur­sprüng­lich ge­plant ist. Dar­um woll­te ich über den Stand der Ar­bei­ten et­was er­fah­ren. Aber es fand sich kein Be­am­ter, der sich kom­pe­tent fühl­te, mir Aus­kunft zu ge­ben.

Da­für wa­ren wir zum Tee ein­ge­la­den bei der Frau ei­nes Ta­mi­len. Und sie er­zähl­te ein we­nig, wie sie die Un­ru­hen im Au­gust 1977 er­lebt hat­te. Die gan­ze Fa­mi­lie trau­te sich nicht mehr aus dem Haus, in den ers­ten Ta­gen. Spä­ter trau­te sie sich nicht ein­mal mehr ins ei­ge­ne Haus, denn Ta­mi­len­häu­ser wur­den ge­plün­dert und manch­mal so­gar in Brand ge­steckt. Ih­res wur­de auch ge­plün­dert, wäh­rend sie sich bei singa­le­si­schen Freun­den ver­steck­ten. Ihr Mann, der Staats­be­am­ter und ein­zi­ger Ta­mi­le un­ter sei­nen 73 Kol­le­gen ist, be­sass vie­le sin­gha­le­si­sche Freun­de. Die Frau traut sich auch heu­te kaum aus dem Haus und hat kei­ne ru­hi­ge Mi­nu­te, bis die Toch­ter von der Schu­le und der Mann vom Bü­ro zu­rück sind. Das klei­ne Haus, das sie be­woh­nen, wol­len sie nicht kau­fen, weil ih­nen die La­ge zu un­si­cher ist. Und ein Haus in Jaff­na kön­nen sie nicht kau­fen, weil seit 1977 die Nach­fra­ge so gross ist, dass sich die Prei­se ver­vier­facht ha­ben.

Die Aus­schrei­tun­gen fin­gen ei­nen Mo­nat nach dem Erd­rutsch-Wahl­sieg der UNP an. Die ge­nau­en Ur­sa­chen sind noch Ge­gen­stand ei­ner Un­ter­su­chung, die von ei­ner Ein­mann-Kom­mis­si­on vor­ge­nom­men wird, er­fah­rungs­ge­mäss ei­ni­ge Jah­re dau­ert und wahr­schein­lich nie ver­öf­fent­licht wird. Aber es gibt in­of­fi­zi­el­le Be­rich­te, nach de­nen un­ter­le­ge­ne Par­tei­en, um der neu­en Re­gie­rung zu scha­den, Ge­rüch­te aus­ge­streut hät­ten, die be­sag­ten, dass sin­gha­le­si­schen Frau­en im Nor­den das Sri, wie es die Au­to­num­mern tra­gen, auf Brüs­te und Hin­tern ge­brannt wur­den, und dass in den Fisch­kis­ten, die vom Nor­den in den Sü­den trans­por­tiert wer­den, Ar­me und Bei­ne er­mor­de­ter Sin­gha­le­sen ge­fun­den wor­den sei­en. Die­se Ge­rüch­te sol­len die He­xen­jagd aus­ge­löst ha­ben.

Schon ein­mal, 1958, war es zu Ras­sen­un­ru­hen ge­kom­men. Zu ei­nem grau­sa­men Ge­met­zel, un­ver­gleich­lich viel schlim­mer als 1977. Tau­sen­de wur­den er­mor­det, le­ben­dig ver­brannt, ver­stüm­melt, er­hängt, ver­ge­wal­tigt. Der äus­se­re An­lass da­zu war da­mals die Spra­che. 1955 wur­de Eng­lisch als Lan­des­spra­che durch Sin­gha­le­sisch und Ta­mi­lisch er­setzt. Die Op­po­si­ti­on, da­mals un­ter der Füh­rung von Mrs. Band­ar­a­nai­kes (in­zwi­schen un­ter Um­stän­den, die zu Spe­ku­la­tio­nen An­lass ge­ben, er­mor­de­ten) Mann, mach­te „Sinha­le­se on­ly“ zum Wahl­ver­spre­chen. Da­mit, und mit an­de­ren Ver­spre­chen, die die Ta­mi­len­fra­ge, die Re­li­gi­on und die Be­sitzverhältnisse im Land be­tra­fen, ge­wann die Peo­p­les United Front die Wah­len sehr deut­lich. Sin­gha­le­sisch wur­de ein­zi­ge Lan­des­spra­che. Und als ei­ni­ge Heiss­spor­ne über al­le ta­mi­li­schen Be­schrif­tun­gen mit Teer das Sri zu pin­seln be­gan­nen, und das in drei Ta­gen auf der gan­zen In­sel pas­sier­te, war die Pro­vo­ka­ti­on da. Die Re­gie­rung griff nur zö­gernd ein. Und als es kei­ne Schil­der und Schrif­ten mehr gab, an de­nen man sieh ver­grei­fen konn­te, ver­griff man sich an den Men­schen. 

Jetzt sit­ze ich auf der Ve­ran­da des Hau­ses der Blocks. Es ist ein schö­nes, stil­les, Aris­to­kra­ti­sches Haus. Der jun­ge Mr. Block hat­te ei­nen Gross­va­ter, der von den Eng­län­dern hoch de­ko­riert wor­den war. Das sieht man dem Na­men an. Und dem Mo­bi­li­ar. Und dem eng­li­schen Gar­ten mit den süss duf­ten­den Tem­pel­blü­ten und dem Ra­sen, auf dem die Nach­bar­kin­der manch­mal Kri­cket spie­len.

Mor­gen fah­ren wir nach Nu­wa­ra Eli­ya. Und dann zu­rück nach Co­lom­bo.

Herz­lichst 

Ihr

8. Brief

Gal­le Face Ho­tel, Co­lom­bo, den 8.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Wir fuh­ren lang­sam und vor­sich­tig die Pass­stras­se nach Nu­wa­ra Eli­ya hin­auf. So­weit man schau­en konn­te: Tee­plan­ta­gen, die meis­ten ge­pflegt wie ein Golf­platz, ei­ni­ge ver­krau­tet wie mei­ne Dach­ter­ras­se. Hie und da ei­ne Grup­pe Pflü­cker­in­nen mit dem gros­sen Korb auf dem Rü­cken und dem Tuch, das sie vor Son­ne und Käl­te schüt­zen soll. Die meis­ten von ih­nen in­di­sche Ta­mi­len.

Sri Lan­ka ist der dritt­gröss­te Tee­pro­du­zent der Welt, über die Hälf­te der Aus­fuhr­er­lö­se des Lan­des kom­men vom Tee. Und der Tee, der hier oben wächst, hat den Ruf, der bes­te der Welt zu sein.

Bis 1971 wa­ren die meis­ten Plan­ta­gen (nicht nur Tee, auch Ko­kos­nuss und Kau­tschuk) in Pri­vat­be­sitz. Dann wur­den die sie­ben bri­ti­schen Plan­ta­gen ver­staat­licht, und 1972 gin­gen die rest­li­chen im Rah­men der Land­re­form vom Pri­vat- in Staats­be­sitz über. Die Land­re­form war ei­nes der Wahl­ver­spre­chen, mit dem die Re­gie­rung von Frau Band­a­n­arai­ke da­mals die Wahl ge­won­nen hat­te. Nach die­sem Ge­setz darf ein Pri­vat­mann nur noch 50 ac­res (mei­ne Um­rech­nungs­ta­bel­le hat der, der mei­ne Ka­me­ra und mei­ne Ein­füh­rungs­schrei­ben ge­klaut hat) Land be­sit­zen. Der Rest des Lan­des soll­te un­ter die Be­völ­ke­rung ver­teilt wer­den. Dass dies kaum ge­schah, ist für vie­le In­si­der die Er­klä­rung für die ka­ta­stro­pha­le Wahl­nie­der­la­ge der SRFP. In­zwi­schen hat man sich hier auf die Mei­nung ge­ei­nigt, die Land­re­form sei nur ein Mit­tel der Re­gie­rung ge­we­sen, um der po­ten­ti­el­len Op­po­si­ti­on, die für ei­ne Links­par­tei ge­zwun­ge­ner­mas­sen aus den Rei­hen der Be­sit­zen­den kom­men muss, das Kreuz zu bre­chen.

Die­se Op­po­si­ti­on nimmt, seit sie wie­der an der Macht ist, mit Be­sorg­nis statt Scha­den­freu­de, zur Kennt­nis, dass die Tee-Pro­duk­ti­on zu­min­dest sta­gniert und die Qua­li­tät sinkt. Dies hat un­ter dem Strich noch kei­ne schlim­men Fol­gen ge­habt, weil die Tee­prei­se stei­gen und die An­sprü­che sin­ken. Aber An­lass zur Be­sorg­nis ist da. Man denkt zwar nicht dar­an, die al­ten Ver­hält­nis­se wie­der­her­zu­stel­len, dar­über, dass ei­ne Land­re­form nö­tig war sind sich die meis­ten ei­nig. Aber man denkt dar­an, die neu­en Ver­hält­nis­se zu ver­bes­sern.

Die Tee­ar­bei­ter ha­ben von der gan­zen Re­form wohl am we­nigs­ten ge­merkt. Sie le­ben im­mer noch in men­schen­un­wür­di­gen Ver­schlä­gen, so­gar in den Tou­ris­ten­plan­ta­gen. Sie müs­sen im Tag 30 Pfund Tee­blät­ter ab­lie­fern und er­hal­ten da­für 8.60 Ru­pi­en. Und 40 Cents für je­des Ex­tra-Pfund. Be­hau­sung, me­di­zi­ni­sche Ver­sor­gung und Schu­le sind um­sonst und ent­spre­chend. Die Tee­ar­bei­ter le­ben nicht gut, aber im­mer noch bes­ser, als wenn sie nach In­di­en ab­ge­scho­ben wer­den. 8.60 Ru­pi­en im Tag sind zwar nur ei­ne Mark. Aber ein Se­kre­tä­rin­nen­ge­halt in Co­lom­bo be­ginnt auch schon bei 35 Mark mo­nat­lich. 

Auf der Pass­hö­he der Stras­se konn­te man auf Nu­wa­ra Eli­ya hin­ab­se­hen, Es war be­wölkt, und trotz­dem lag über der Stadt ein hel­les, selt­sa­mes Licht. Für Ran­jit war das nichts Be­son­de­res. Das sei im­mer so im Tal des Lichts.

Nu­wa­ra Eli­ya ist über­haupt kaum zu glau­ben. Man hat das Ge­fühl, ei­ne eng­li­sche Klein­stadt sei nach St. Mo­ritz-Bad ver­pflanzt wor­den. Al­les ist da: Die Ber­ge, der föh­ren­ar­ti­ge Wald, der klei­ne See, die 1850 Me­ter über Meer, der küh­le Wind. Die Häu­ser sind eng­li­sche Cot­ta­ges mit vie­len Ka­mi­nen, oder schnee­weis­se Land­gü­ter. Der Golf­platz fehlt nicht, der Pfer­de­renn­bahn kön­nen die paar Ge­mü­se­bee­te nichts an­ha­ben und im dunk­len Bil­li­ard­saal des Pa­lace­ho­tels riecht es nach längst ab­ge­stan­de­nem Bal­kan Sobra­nie und ro­hen Wit­zen längst ver­reis­ter Pflan­zer, dass es ei­nem ei­sig den Rü­cken her­un­ter­läuft.

Auf der Stras­se zwi­schen Kan­dy und Co­lom­bo zeig­te mir Ran­jit ei­nen ver­wit­ter­ten Ge­denk­stein, der zwi­schen ei­ner Ga­ra­ge und ei­nem La­den ver­steckt lag. Mit den Fin­ger­spit­zen konn­te man ge­ra­de noch die In­schrift ent­zif­fern: „An die­ser Stel­le, im März l864 ver­lor P. C. Sab­han sein Le­ben bei ei­ner Hel­den­tat, die Mr. E. R. San­ders, As­si­stant Go­ver­nor Agent Ke­ga­la, die Ver­haf­tung von Sar­diel und ei­nem Mit­glied sei­ner Räu­ber­ban­de er­mög­lich­te. Fünf Ta­ge zu­vor wur­den John van Haght und Chris­ti­an Ap­pu ge­tö­tet und vier wei­te­re ver­letzt, als sie Sar­diel zu ver­haf­ten ver­such­ten.“

Sar­di­al war für die ei­nen Sri Lan­kas Ro­bin Hood und für die an­dern ein ge­wöhn­li­cher Ver­bre­cher. Er leb­te auf ei­nem Fel­sen, der heu­te Ut­hu­man Kan­de, Berg des gros­sen Man­nes ge­nannt wird, und von dem aus man die Stras­se nach bei­den Sei­ten mei­len­weit über­bli­cken konn­te, weil ihr Er­bau­er, Cap­tain Daw­son den Fels als Land­mar­ke ge­nom­men ha­ben soll. Von die­sem Räu­ber­nest aus raub­te Sar­diel die Post­kut­schen und Tee­trans­por­te aus. Und sie hät­ten ihn nie er­wischt, wenn ihn nicht ei­ner we­gen ei­ner schö­nen Frau ver­ra­ten hät­te.

Ich ha­be noch viel ge­se­hen, auf die­sen letz­ten Mei­len nach Co­lom­bo. Pad­dy­fel­der, wie grü­ne trä­ge Flüs­se zwi­schen Pal­men­ufern. Ele­fan­ten, die faul im Was­ser la­gen und sich, nach ei­nem Tag har­ter Ar­beit, von ih­rem Ma­houd mit ei­ner Ko­kos­scha­le die Dick­haut scha­ben lies­sen. Teak­plan­ta­gen, Eu­ka­lyp­tus­plan­ta­gen und ei­ne Gum­mi­fa­brik, Ran­jit be­stand dar­auf.

Jetzt sit­ze ich im viel zu teu­ren Gal­le Face Ho­tel. Die nächs­ten Ta­ge wer­de ich re­cher­chie­ren. In den letz­ten Ta­gen ha­be ich er­fah­ren, wie­viel ich nicht weiss über die­se ge­heim­nis­vol­le In­sel.

Herz­li­che Grüs­se

Ihr

9. Brief

Gal­le Face Ho­tel, Co­lom­bo, den 12.1.80

Lie­ber Rolf Win­ter,

Seit ich hier bin, ist im Fort, im Zen­trum, je­den Tag um die Mit­tags­zeit der Teu­fel los. Die Tra­de Uni­ons de­mons­trie­ren ge­gen die Kür­zung ih­rer frei­en Ta­ge (149 bis 160 im Jahr, bis­her). Das heisst, sie de­mons­trie­ren ge­gen das Ver­bot die­ser De­mons­tra­tio­nen. Sie stel­len sich in der Mit­tags­zeit vor die Bü­ro­häu­ser, mit ei­nem Ta­schen­tuch vor dem Mund, als Sym­bol für die Ein­schrän­kung der Re­de­frei­heit. Ob die­se ein­ge­schränkt ist, weiss ich nicht. Dass die De­mons­tra­ti­ons­frei­heit es ist, weiss ich: Am 3. Ok­to­ber 1979 ver­ab­schie­de­te das Par­la­ment, das heisst, die 5/6 Mehr­heit der Re­gie­rungs­par­tei, ein Ge­setz, das Streiks in al­len Wirt­schafts­sek­to­ren, die die Re­gie­rung von Fall zu Fall für we­sent­lich er­klä­ren kann, ver­bie­tet. Auf­ruf zum Streik oder Be­tei­li­gung dar­an wird drei­fach be­straft: Kün­di­gung, Haft oder Bus­se, Be­schlag­nah­mung der ge­sam­ten Ha­be. Ge­gen die vier­te Stra­fe, end­gül­ti­ge Ab­erken­nung des be­ruf­li­chen Sta­tus, er­hob der Obers­te Ge­richts­hof Ein­spruch.

Was al­so hier im Au­gen­blick statt­fin­det sind kei­ne Streiks, son­dern De­mons­tra­tio­nen. Ein gros­ser Teil der Tra­de Uni­ons sind von der Op­po­si­ti­on ge­führt. In ei­nem Land, wo es im Par­la­ment prak­tisch kei­ne Op­po­si­ti­on gibt, geht die­se eben in die aus­ser­par­la­men­ta­ri­sche. Ein an­de­rer Teil aber ist re­gie­rungs­treu. Zwi­schen die­sen zwei Frak­tio­nen to­ben jetzt täg­lich Stras­sen­kämp­fe.

Es be­ginnt mit ei­nem Auf­lauf ru­hi­ger, trot­zi­ger Leu­te. Plötz­lich ir­gend­wo ein Ge­tüm­mel, ein Men­schen­knäu­el, dann Stei­ne, dann ren­nen­de Men­schen, Hun­der­te, dann Ru­he, und dann das glei­che an ei­ner an­de­ren Ecke, und dann fla­ckert es auf im gan­zen Fort. Win­zi­ge Po­li­zei­ein­hei­ten grei­fen ein, mit un­er­klär­lich gros­sem Er­folg.

Am ers­ten Tag wa­ren ei­ni­ge der An­füh­rer un­ter den Ver­letz­ten. Heu­te wur­den zum ers­ten Mal Bom­ben ge­wor­fen. Drei of­fen­bar ho­he Ge­werk­schafts­funk­tio­nä­re wur­den ver­haf­tet.

Ich kann mir den­ken, dass es der Re­gie­rung ein we­nig mul­mig ist. Der Auf­stand Ju­gend­li­cher und Bau­ern von 1971 ist al­len in schlech­ter Er­in­ne­rung ge­blie­ben. Da­mals grif­fen Tau­sen­de un­ter der Füh­rung von Rohan Wi­je­wee­ra zu den Waf­fen. Die meis­ten von ih­nen ar­beits­los und un­ter 24. Die Re­gie­rung schlug den Auf­stand gna­den­los nie­der. Man spricht von 12 bis 15 000 To­ten, vie­le da­von Un­be­tei­lig­te, die von völ­lig ver­bies­ter­ten Po­li­zis­ten und Sol­da­ten nie­der­ge­macht wur­den, nur weil sie so jung wa­ren wie die Auf­stän­di­schen. Zur Ab­ur­tei­lung der Auf­stän­di­schen er­liess die Re­gie­rung Band­ar­a­nai­ke da­mals ein Son­der­ge­setz, das die jet­zi­ge Re­gie­rung wie­der auf­hob. Das war ei­ne sehr po­pu­lä­re Mass­nah­me. Aber eben: Die In­fla­ti­ons­ra­te be­trägt 24%. Und die Zahl der Ar­beits­lo­sen ei­ne Mil­li­on.

War­um es so schwie­rig war, über das Ma­ha­vel­li-Pro­jek­tet­was zu er­fah­ren, ist mir jetzt auch klar: Es ist sehr um­strit­ten:

Es gibt zum Bei­spiel ei­nen Mann, der noch vor ei­nem Jahr

 be­le­gen konn­te, dass für das gan­ze Pro­jekt gar kein rich­ti­ger Plan be­steht. Die­ser Mann ist jetzt al­ler­dings Be­ra­ter der Ko­mis­si­on und et­was zu­rück­hal­ten­der. Es gibt vie­le, ernst­zu­neh­men­de Ein­wän­de: Das Pro­jekt wird die so­zia­len Struk­tu­ren zer­stö­ren. Es wird kli­ma­ti­sche Ver­än­de­run­gen her­vor­ru­fen. Es ist ei­ne Num­mer zu gross, denn wenn es voll­endet ist, gibt es in ganz Sri Lan­ka kein Land mehr, das man nutz­bar ma­chen könn­te. Die Welt­bank hat aus­ge­rech­net, dass man mit rich­ti­ge­rer und spar­sa­me­rer An­wen­dung der be­stehen­den Be­wäs­se­rungs­an­la­gen 200 000 Ton­nen Reis mehr ern­ten könn­te, gleich­viel, wie das Land im­por­tie­ren muss. Und schliess­lich wird die In­sel, die mit 20% Be­wal­dung oh­ne­hin et­wa zehn Pro­zent un­ter der kri­ti­schen Gren­ze liegt, nur noch zu oe­ko­lo­gisch ka­ta­stro­pha­len 14% be­wal­det sein. Für das Wild­life muss das töd­lich sein. 2000 wil­den Ele­fan­ten wird man den Le­bens­raum neh­men, sie zwin­gen, Fel­der und Plan­ta­gen zu be­schä­di­gen und sich ih­rer ent­le­di­gen. Auch die Vö­gel, Rep­ti­li­en und Säu­ge­tie­re wer­den ih­ren Le­bens­raum ver­lie­ren. Vor zehn Jah­ren wa­ren noch fast 40% der Tro­cken­zo­ne be­wal­det. Heu­te nur noch die Hälf­te. In der Re­gen­zo­ne nur noch 9%. Und das Sin­ha­ra­ja Fo­rest ist der letz­te nen­nens­wer­te Ue­ber­rest ei­nes tro­pi­schen Re­gen­wal­des.

Al­le sind sich dar­über ei­nig, dass das Ma­ha­vel­li Pro­jekt aus so­zia­len und öko­no­mi­schen Grün­den bit­ter nö­tig ist. Aber vie­le sind nicht ein­ver­stan­den mit der Form des Pro­jek­tes.

Ich glau­be, ich könn­te al­lein dar­über ei­nen lan­gen Ar­ti­kel schrei­ben. Und wenn Sie wol­len, tu ich das auch. Oder über Ele­fan­ten. Oder über Mär­chen der Dorf­be­woh­ner.

Oder über die Tän­zer. Hier nur so­viel: Der Volks­tanz hat tat­säch­lich durch den Tou­ris­mus Auf­trieb be­kom­men. Und die Leu­te, die sich an Flei­scher­ha­ken auf­hän­gen, zie­hen von Ho­tel zu Ho­tel. Aber die Bil­der von Bru­no müs­sen von Ka­ta­ra­ga­ma stam­men. Dort tref­fen sich ein­mal im Jahr Hin­dus, die Skan­da, der Gott­heit von Ka­ta­ra­ga­ma ein Ge­lüb­de ab­ge­legt, ha­ben, sich zu quä­len. Das geht von Wäl­zen im Staub, übers Feu­er ge­hen, die Ba­cken durch­boh­ren bis zu Sich-Auf­hän­gen an Flei­scher­ha­ken. Die Pil­ger las­sen sich in Tran­ce ver­set­zen, und es fliesst kein Trop­fen Blut.

Ich ha­be auch her­aus­ge­fun­den, dass es über den Kas­ten noch ei­nen Adel gibt, zum Bei­spiel Ra­dalas und Ban­d­as. Das ist ei­ne win­zi­ge Min­der­heit. Die gröss­te Kas­te ist auch zu­gleich die höchs­te, die Goyiga­ma. Das fand ich er­staun­lich. Und auch, dass al­le, die kei­ner Kas­te an­ge­hö­ren, al­so auch wir Eu­ro­pä­er, die glei­chen Vor­rech­te der höchs­ten Kas­te ge­nies­sen. Das fand ich auf­schluss­reich, das er­klär­te mir die herz­li­che Gast­freund­schaft der Men­schen hier. Und durch die­se Neu­ig­kei­ten über das Kas­ten­we­sen miss­trau­isch ge­macht, über­prüf­te ich noch ein­mal mei­ne An­ga­ben dar­über. Es ist zum Ver­zwei­feln: Al­les, was ich Ih­nen ge­schrie­ben hab, kön­nen Sie ver­ges­sen. Ei­ne ei­ni­ger­mas­sen ver­bind­li­che Lis­te der Kas­ten le­ge ich bei.

Das ist mein Live-Be­richt aus Sri Lan­ka. Mor­gen flie­ge ich nach Sin­g­a­po­re. Und von dort aus ir­gend­wo­hin, wo ich völ­lig ver­ständ­nis­los ein we­nig Fe­ri­en ma­chen kann.

Glau­ben Sie, dass die­se Brie­fe, wenn man sie strafft, neu in­to­niert, die sti­lis­ti­schen Er­mü­dungs­er­schei­nun­gen aus­merzt, da und dort ei­ne Lang­at­mig­keit durch ei­ne Atem­lo­sig­keit er­setzt, glau­ben Sie, dass dann die­se Brie­fe ei­nen pas­sa­blen GEO-Be­richt über Sri Lan­ka er­ge­ben könn­ten?

Ich mel­de mich dann. 

Herz­li­che Grüs­se

Ihr

Castes and Subcastes