Die Eltern
Die Schampbar und das Fisch&Vogel sind entfamiliarisierte Zonen. Wer dort verkehrt wird nicht nach seinem Hintergrund gefragt. Und wenn darüber Gerüchte kursieren – wie im Fall von Susi Schläfli, von der es heisst, ihr Vater besitze mehrere Patente auf dem Befestigungstechniksektor – werden sie nicht einmal dementiert. Im Fisch&Vogel und in der SchampBar kann jeder sein, wie er ist. Oder wie im Fall von Geri Weibel, wie er glaubt, sein zu müssen.
Es würde, zum Beispiel, niemandem einfallen, sich mit seiner Mutter in der SchampBar zum Apéro zu treffen oder den Sechzigsten des Vaters im Fisch&Vogel zu begehen. Für solche Zwecke gibt es andere Lokale.
Diese Demarkationslinie ist für Geri eine solche Selbstverständlichkeit, dass er nie auf die Idee gekommen ist, sie gegenüber seinen Eltern zu erwähnen.
Man kann also Gertrud Weibel keinen Vorwurf machen, dass sie eines Tages ihrem Mann Alois den Vorschlag macht, im Fisch&Vogel zu essen. Man hat Zeit, man ist pensioniert und Alois sollte wegen seinem Blutdruck mehr Fisch und Geflügel essen.
Sie sind die ersten Mittagsgäste und bekommen zwei Plätze an einem netten Sechsertisch in Fensternähe. Gertrud Weibel setzt sich so, dass sie den Eingang im Auge behalten kann. Könnte ja sein, dass zufällig Geri heute auch hier isst. Vielleicht, wenn Geri ihnen gegenüber erwähnt hätte, dass er praktisch immer hier isst, könnte man Weibels unterstellen, sie hätten es auf ein Zusammentreffen abgesehen. Aber Geri hatte damals, als ihn seine Mutter auf das Zündholzbriefchen mit dem Fisch und dem Vogel ansprach, die Bedeutung des Lokals in seinem Leben heruntergespielt. Es sei okay wenn man einmal Lust auf Fisch oder Geflügel habe.
Langsam träufeln die Gäste herein und verteilen sich auf die Tische. Zwei, drei Mal schnellt Gertrud Weibels Hand in die Höhe, weil sie Geri zu erkennen glaubt. „Die sehen auch alle gleich aus, gleiche Frisur, gleich angezogen“, sagt sie zu ihrem Mann.
Der schaut von der Speisekarte auf und wundert sich. „Hühnerbrust mit Dörrpflaumenfüllung?“
Gertrud Weibels Hand schnellt empor. „Uhu, Geri!“ ruft sie. Am Stammtisch drehen sich ein paar Köpfe.
Geris erster Impuls, als er die Stimme seine Mutter hört ist umkehren. Einfach rechtsumkehrt und ab. Sein zweiter: Umfallen und sich tot stellen. Sein dritter: Lächelnd auf den Tisch zugehen, von dem die Stimme kommt. Er entscheidet sich für den dritten. Wenigstens hat sie ihn nicht Gegeli gerufen.
„Was macht den IHR da?“, rutscht es Geri heraus, als er seine Mutter mit einem artigen Kuss begrüsst und seinem Vater die Hand schüttelt.
„Zu Mittag essen“ antwortet seine Mutter. Im defensiven Tonfall, der Geri seit Kind auf die Nerven geht.
„Wie ist Hühnerbrust mit Dörrpflaumenfüllung?“, fragt sein Vater.
„Eine Art Cordon Bleu aber mit Dörrpflaumen gefüllt“, antwortet Geri. Er steht immer noch unentschlossen neben dem Tisch.
„Warum setzt du dich nicht? Bist du verabredet?“, fragt seine Mutter. Geri setzt sich mit dem Rücken zum Stammtisch.
„Paniert?“, fragt der Vater.
„Sind das Freunde von dir?“ Gertrud Weibel deutet auf den Stammtisch.
„Nein“, antwortet Geri.
„Warum schauen die denn immer so hierher?“
„Nein, nicht paniert meine ich.“
„Cordon Bleu ist aber paniert“, erwidert Alois Weibel.
Geris schaut in die Menukarte seines Vaters. „Dann nimm doch Lachstranche auf Lauchbett.“ Seine Mutter hat seine kurze Unaufmerksamkeit ausgenützt und jemanden herangewunken
Geris Mutter besitzt eine Art, Leute heranzuwinken, die keinen Widerspruch duldet. Augenblicklich steht Freddy Gut am Tisch. „Wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Wir sind Geris Eltern.“
„Freut mich“, antwortet Freddy, „aber ich bin dort mit zwei Kollegen.“
„Bringen Sie sie mit, hier sind drei Plätze frei“, befiehlt Geris Mutter. Kurz darauf kommt Freddy mit Robi Meili und Susi Schläfli zurück.
Während des ganzen Essens (Hühnerbrust mit Dörrpflaumenfüllung) sitzt Geri auf Nadeln. Aber seine Eltern zeigen sich von ihrer besten Seite. Nach dem Kaffee ist Geri so entspannt, dass er es riskiert, sie einen Toilettenbesuch lang allein zu lassen. Als er zurückkommt, haben seine Eltern für den ganzen Tisch bezahlt. Am Abend in der SchampBar sagt Freddy Gut: „Echt cool, deine Eltern, Gegeli.“