Die alten Tage des Grand
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Das Grand hat schon bessere Tage gesehen. Es war zwar nie das erste Haus am Platz, aber den zweiten Rang hatte ihm jahrelang niemand streitig gemacht.
Wie ein Märchenschloss lag es in seinem verzauberten Park voller geissblattumrankter Pavillons, und seine Türmchen waren wie aus Zuckerguss. Die Pagen trugen einen roten Fes mit goldener Quaste, und die Bellboys sahen aus wie königliche Gardisten. Die Gäste wohnten in der ersten und zweiten Etage, die oberen Stockwerke dienten der Entourage, im Fünften und in den Dachgeschossen war das Personal untergebracht. Auf jeden Gast kamen zwei Angestellte.
Fast jeden Tag fanden in den roten, blauen, gelben und grünen Salons Empfänge statt, und an den meisten Wochenenden private Bankette im Palmensaal mit bis zu zwölf Gängen. Im Mai und im Juni verging kein Sonntag ohne Hochzeit im Ballsaal. Es kam vor, dass Hochzeiten um ein Jahr verschoben wurden, nur weil im Grand kein Maitermin mehr frei war.
Das Grand überstand den ersten Weltkrieg mit Eleganz und den zweiten mit Anstand. Aber in den sechziger Jahren ging ihm langsam der Schnauf aus. Es verkaufte da und dort ein Eckchen seines Parks und versuchte die gelben Wohnblöcke zu übersehen, die darauf entstanden. Aber das Geld reichte nicht, um zu verhindern, dass das Haus rasch das dritte, vierte, fünfte am Platz wurde.
In den siebziger Jahren übernahm der Enkel des Gründers das Haus. Er nahm eine dritte Hypothek auf und verkaufte den Park bis auf einen Streifen von dreissig Metern vor der grossen Terrasse. Mit dem Geld liess er auch in den Zimmern der dritten, vierten und fünften Etage Bäder einbauen, zog in die hohen Räume niedrige Kunststoffdecken ein, liess überall Aluminiumfenster anbringen und vor alle Eingänge moderne Windfänge mit orangen Leuchtschriften, formal dem Jugendstil des Hauses nachempfunden, aber modern.
Heute wird man in der grossen Lobby mit Wintergarten zum amputierten Park von einer Tafel aus grünem Velours empfangen. Darauf steht in gelben Steckbuchstaben ”Introcom, gelber Salon” und ”International Concrete, roter Salon” und ”Präsentation Electrobio, Palmensaal” und ”Seminar Consultag, Ballsaal”.
Dahinter reihen sich lange Tische mit Geschirr, Thermoskrügen, aufgeschnittenen Kuchen, Mineralwassern mit und ohne Kohlensäure, Karaffen mit Orangen- und Grapefruitsaft und einem Schild mit den Aufschriften: Introcom, Omnag, International Concret, Electrobio und Consultag.
Männer mit angespannten Gesichtern und ihre nervösen Assistentinnen tragen Projektionswände, Beamer, Flipcharts und Kartonschachteln voller Exposés durch die Gänge.
Gesamtverantwortliche inspizieren kennerhaft die Pausenbuffets und tauschen schon einmal verstohlen International Concret mit Introcom aus, weil der Tisch schöner liegt.
In Zimmern, in denen einst Etagenkellner die Gäste begrüssten, stehen jetzt Fernseher mit der Inschrift ”Welcome Mr. Hüni”.
Und spät in den Hochzeitssuiten sehen Management Consultants Erwachsenenfilme und hoffen, die Filmtitel tauchen nicht auf der Hotelrechnung auf.
16.11.2000