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Wenn man, wie Geri Weibel, seit über fünfzehn Jahren alleine wohnt, ist es nicht einfach, die Wohnung plötzlich mit anderen Leuten zu teilen. Vor allem, wenn es sich bei der Wohnung nicht um die eigene und bei den anderen Leuten um die Eltern handelt.
Geri war davon ausgegangen, dass es sich nur um ein paar Tage handeln würde. Er hatte Elmar, der an seiner Stelle vermeintlich auf die Loft eines Bekannten aufpasst, die in Wirklichkeit Geri gehört – ersparen wir uns die Details – gesagt, der Besitzer der Wohnung komme in einer Woche zurück. Darauf hatte sich Elmar entschlossen, dessen Rückkehr abzuwarten und ihm anzubieten. die Wohnung mit ihm zu teilen. „Eine so grosse Loft für einen allein, das ist asozial“, hatte er gemault.
Geri war gezwungen, die Rückkehr des fiktiven Wohnungsbesitzers immer wieder aufzuschieben. Seinen Eltern erzählte er, dass er seine Wohnung vorübergehend einem Familienvater mit Kindern überlassen habe. Ein Akt der Solidarität zwischen Arbeitskollegen.
Inzwischen hat er sich im „Kinderzimmer“ häuslich eingerichtet, sofern man sich in einem Raum häuslich einrichten kann, dessen Wände mit Leonardo di Caprio und Céline Dion tapeziert sind. Für den Wandschmuck ist seine Nichte Joëlle (9) verantwortlich, die aus familiären Gründen zweimal die Woche bei den Grosseltern übernachtet. Die Nächte von Donnerstag bis Samstag schläft Geri daher jeweils auf dem hässlichen Wohnzimmersofa, das sich mit wenigen Handgriffen in ein hässliches Bett verwandeln lässt.
Wenn sich Gertrud und Alois Weibel wenigstens so verhalten würden, wie andere Eltern, deren erwachsener Sohn wieder bei ihnen einzieht: Die Mutter verwöhnt ihn mit Leibspeisen, die nie seine Leibspeisen waren, der Vater versucht ihn mit politischen Streitgesprächen wieder aus dem Haus zu treiben.
Aber als Geri eines Nachts spät nach Hause kommt und ein kleines Bier aus dem Kühlschrank nimmt, hängt am Flaschenhals ein Schild mit dem Namen „Alois“. Er hält es für einen Scherz seines mit einem etwas eigenartigen Humor ausgestatteten Vaters und holt sich eine andere Flasche aus dem Kühlschrank. Auch sie trägt den Namen „Alois“. Eine nähere Untersuchung des Kühlschranks ergibt, dass alle Bierflaschen „Alois“ heissen, plus ein Mineralwasser plus ein vakuumverpackter Presskopf. Eine fast volle Flasche „Kanne Brottrunk“ heisst „Trudy“, eine fast leere Flasche Aigle „Alois & Trudy“. Die Namen sind in verschiedenen Schriften gehalten: Times für Alois, Helvetica für Gertrud. Offensichtlich das Werk von Geris Vater, der seit ein paar Monaten die wunderbare Welt des Computers entdeckt hat. Für „Geri“ hat er eine halbfette Fraktur gewählt. Der einzige Artikel, der seinen Namen trägt, ist ein Ananas Joghurt. Neben dem Namen leuchtet ein oranger Kleber, wie ihn Galeristen für verkaufte Werke verwenden. Darunter steht in seiner Mutters Schrift „Verf.-Datum!“
Was Geri beunruhigt, ist das „Trudy“. Noch nie haben er oder sein Vater seine Mutter anders genannt als „Mami“.
Am nächsten Morgen passt ihm „Trudy“ in der Küche ab. Sie trägt pinkfarbene Leggins und ein schwarzes T‑Shirt mit der Aufschrift „13. Internationales Harley-Davidson Treffen Egliswil/AG“. Sie eröffnet ihm, dass in Zukunft Montag und Mittwoch seine Kochtage seien.
Noch am gleichen Tag zieht er bei Elmar ein. Eigentlich hatte er vorgehabt, bei ihm aufzukreuzen und zu sagen: „Der Wohnungsbesitzer ist zurück.“ Und wenn dann Elmar gefragt hätte: „Wo?“, hätte er geantwortet: „Er steht vor dir.“ Aber irgendwie verpasst er den richtigen Moment, lässt sich in seine eigene Wohnung bitten wie ein Gast, akzeptiert ein Bier und verheddert sich in eine Geschichte, die darauf hinausläuft, dass er – vorübergehend – eine Bleibe braucht. Elmar ist kein Unmensch. Er überlässt Geri das Sofa im Wohn-Koch-Bereich.
Die Lösung hat auch Vorteile. Zum Beispiel den, dass Geri jetzt offiziell im Industriequartier wohnt und weder eine wirkliche noch eine fiktive letzte S‑Bahn erreichen muss. Aber es gibt auch Nachteile. Zum Beispiel Elmars rastloses Liebesleben. Jedesmal, wenn er nicht alleine in der Wohnung ist, hängt an der Tür ein Schild mit dem Wort „Tabu“. Das bedeutet, dass der jeweils andere die Wohnung bis zwei Uhr früh nicht betreten darf. Dass der jeweils andere immer Geri ist, belastet die Wohngemeinschaft. Aber ihre Auflösung verdankt sie schliesslich einem Bier im Kühlschrank, an dessen Flaschenhals ein Schild mit dem Namen „Elmar“ baumelt.Nun endlich hängt an Geris Wohnungstür ein Schild, auf dem „Geri Weibel“ steht.