×

Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

GWs WGs

Wenn man, wie Ge­ri Wei­bel, seit über fünf­zehn Jah­ren al­lei­ne wohnt, ist es nicht ein­fach, die Woh­nung plötz­lich mit an­de­ren Leu­ten zu tei­len. Vor al­lem, wenn es sich bei der Woh­nung nicht um die ei­ge­ne und bei den an­de­ren Leu­ten um die El­tern handelt. 

Ge­ri war da­von aus­ge­gan­gen, dass es sich nur um ein paar Ta­ge han­deln wür­de. Er hat­te El­mar, der an sei­ner Stel­le ver­meint­lich auf die Loft ei­nes Be­kann­ten auf­passt, die in Wirk­lich­keit Ge­ri ge­hört – er­spa­ren wir uns die De­tails – ge­sagt, der Be­sit­zer der Woh­nung kom­me in ei­ner Wo­che zu­rück. Dar­auf hat­te sich El­mar ent­schlos­sen, des­sen Rück­kehr ab­zu­war­ten und ihm an­zu­bie­ten. die Woh­nung mit ihm zu tei­len. „Ei­ne so gros­se Loft für ei­nen al­lein, das ist aso­zi­al“, hat­te er gemault. 

Ge­ri war ge­zwun­gen, die Rück­kehr des fik­ti­ven Woh­nungs­be­sit­zers im­mer wie­der auf­zu­schie­ben. Sei­nen El­tern er­zähl­te er, dass er sei­ne Woh­nung vor­über­ge­hend ei­nem Fa­mi­li­en­va­ter mit Kin­dern über­las­sen ha­be. Ein Akt der So­li­da­ri­tät zwi­schen Arbeitskollegen.

In­zwi­schen hat er sich im „Kin­der­zim­mer“ häus­lich ein­ge­rich­tet, so­fern man sich in ei­nem Raum häus­lich ein­rich­ten kann, des­sen Wän­de mit Leo­nar­do di Ca­prio und Cé­li­ne Di­on ta­pe­ziert sind. Für den Wand­schmuck ist sei­ne Nich­te Jo­ël­le (9) ver­ant­wort­lich, die aus fa­mi­liä­ren Grün­den zwei­mal die Wo­che bei den Gross­el­tern über­nach­tet. Die Näch­te von Don­ners­tag bis Sams­tag schläft Ge­ri da­her je­weils auf dem häss­li­chen Wohn­zim­mer­so­fa, das sich mit we­ni­gen Hand­grif­fen in ein häss­li­ches Bett ver­wan­deln lässt.

Wenn sich Ger­trud und Alo­is Wei­bel we­nigs­tens so ver­hal­ten wür­den, wie an­de­re El­tern, de­ren er­wach­se­ner Sohn wie­der bei ih­nen ein­zieht: Die Mut­ter ver­wöhnt ihn mit Leib­spei­sen, die nie sei­ne Leib­spei­sen wa­ren, der Va­ter ver­sucht ihn mit po­li­ti­schen Streit­ge­sprä­chen wie­der aus dem Haus zu treiben. 

Aber als Ge­ri ei­nes Nachts spät nach Hau­se kommt und ein klei­nes Bier aus dem Kühl­schrank nimmt, hängt am Fla­schen­hals ein Schild mit dem Na­men „Alo­is“. Er hält es für ei­nen Scherz sei­nes mit ei­nem et­was ei­gen­ar­ti­gen Hu­mor aus­ge­stat­te­ten Va­ters und holt sich ei­ne an­de­re Fla­sche aus dem Kühl­schrank. Auch sie trägt den Na­men „Alo­is“. Ei­ne nä­he­re Un­ter­su­chung des Kühl­schranks er­gibt, dass al­le Bier­fla­schen „Alo­is“ heis­sen, plus ein Mi­ne­ral­was­ser plus ein va­ku­um­ver­pack­ter Press­kopf. Ei­ne fast vol­le Fla­sche „Kan­ne Brot­trunk“ heisst „Tru­dy“, ei­ne fast lee­re Fla­sche Aigle „Alo­is & Tru­dy“. Die Na­men sind in ver­schie­de­nen Schrif­ten ge­hal­ten: Times für Alo­is, Hel­ve­ti­ca für Ger­trud. Of­fen­sicht­lich das Werk von Ge­ris Va­ter, der seit ein paar Mo­na­ten die wun­der­ba­re Welt des Com­pu­ters ent­deckt hat. Für „Ge­ri“ hat er ei­ne halb­fet­te Frak­tur ge­wählt. Der ein­zi­ge Ar­ti­kel, der sei­nen Na­men trägt, ist ein Ana­nas Jo­ghurt. Ne­ben dem Na­men leuch­tet ein oran­ger Kle­ber, wie ihn Ga­le­ris­ten für ver­kauf­te Wer­ke ver­wen­den. Dar­un­ter steht in sei­ner Mut­ters Schrift „Verf.-Datum!“

Was Ge­ri be­un­ru­higt, ist das „Tru­dy“. Noch nie ha­ben er oder sein Va­ter sei­ne Mut­ter an­ders ge­nannt als „Ma­mi“. 

Am nächs­ten Mor­gen passt ihm „Tru­dy“ in der Kü­che ab. Sie trägt pink­far­be­ne Leg­gins und ein schwar­zes T‑Shirt mit der Auf­schrift „13. In­ter­na­tio­na­les Har­ley-Da­vid­son Tref­fen Egliswil/AG“. Sie er­öff­net ihm, dass in Zu­kunft Mon­tag und Mitt­woch sei­ne Koch­ta­ge seien.

Noch am glei­chen Tag zieht er bei El­mar ein. Ei­gent­lich hat­te er vor­ge­habt, bei ihm auf­zu­kreu­zen und zu sa­gen: „Der Woh­nungs­be­sit­zer ist zu­rück.“ Und wenn dann El­mar ge­fragt hät­te: „Wo?“, hät­te er ge­ant­wor­tet: „Er steht vor dir.“ Aber ir­gend­wie ver­passt er den rich­ti­gen Mo­ment, lässt sich in sei­ne ei­ge­ne Woh­nung bit­ten wie ein Gast, ak­zep­tiert ein Bier und ver­hed­dert sich in ei­ne Ge­schich­te, die dar­auf hin­aus­läuft, dass er – vor­über­ge­hend – ei­ne Blei­be braucht. El­mar ist kein Un­mensch. Er über­lässt Ge­ri das So­fa im Wohn-Koch-Bereich.

Die Lö­sung hat auch Vor­tei­le. Zum Bei­spiel den, dass Ge­ri jetzt of­fi­zi­ell im In­dus­trie­quar­tier wohnt und we­der ei­ne wirk­li­che noch ei­ne fik­ti­ve letz­te S‑Bahn er­rei­chen muss. Aber es gibt auch Nach­tei­le. Zum Bei­spiel El­mars rast­lo­ses Lie­bes­le­ben. Je­des­mal, wenn er nicht al­lei­ne in der Woh­nung ist, hängt an der Tür ein Schild mit dem Wort „Ta­bu“. Das be­deu­tet, dass der je­weils an­de­re die Woh­nung bis zwei Uhr früh nicht be­tre­ten darf. Dass der je­weils an­de­re im­mer Ge­ri ist, be­las­tet die Wohn­ge­mein­schaft. Aber ih­re Auf­lö­sung ver­dankt sie schliess­lich ei­nem Bier im Kühl­schrank, an des­sen Fla­schen­hals ein Schild mit dem Na­men „El­mar“ baumelt.Nun end­lich hängt an Ge­ris Woh­nungs­tür ein Schild, auf dem „Ge­ri Wei­bel“ steht. 

×
Login

Passwort wiederherstellen

Member werden
Member werden für 50 Franken pro Jahr
Probezugang

Falls Sie einen Code besitzen, geben Sie diesen hier ein.

Gutschein

Martin Suter kann man auch verschenken.
Ein ganzes Jahr für nur 50 Franken.
Versandadresse: