Herders weiche Qualifikationen

Auch dies war einst ei­ne zwei­tei­li­ge Ko­lum­ne. Und auch dies­mal wol­len wir Sie nicht ei­ne Wo­che auf die Fol­ter spannen.

Ma­tu­ra, Masch.-Ing ETH, MBA, mehr­jäh­ri­ge Füh­rungs­er­fah­rung, D/F/E plus I‑Kenntnisse, Wei­ter­bil­dung in Rech­nungs­we­sen, Con­trol­ling, In­for­ma­tik; Ur­teils- und Ent­schluss­kraft, kon­zep­tio­nel­les und ver­netz­tes Den­ken, Ver­hand­lungs­ge­schick, gu­tes schrift­li­ches Aus­drucks­ver­mö­gen, Team­fä­hig­keit, Ehr­geiz, Aus­dau­er, Fle­xi­bi­li­tät und ho­he Be­last­bar­keit sind Her­ders har­te Qua­li­fi­ka­tio­nen. Ge­nug, um je­den halb­wegs rea­lis­ti­schen Head­hun­ter zum Träu­men zu brin­gen. Bis jetzt jedenfalls.

Her­der hat zum As­sess­ment sei­nes per­sön­li­chen Markt­werts im­mer wie­der Prä­senz auf dem Per­so­nal­markt mar­kiert. Ab und zu ei­ne neue Her­aus­for­de­rung an­ge­nom­men oder ein­fach nur Ver­hand­lungs­be­reit­schaft si­gna­li­siert, wenn ei­ne An­fra­ge kam. Ein Mann, der weiß, was er wert ist, tritt ganz an­ders auf.

Im Rah­men die­ser Selbst­wert­be­stim­mung schickt er sei­ne Un­ter­la­gen zur un­ver­bind­li­chen Vor­ab­klä­rung an ei­ne Hu­man Re­sour­ces Be­ra­tung, die für ih­re Man­dan­tin, ei­ne re­nom­mier­te, in­ter­na­tio­nal tä­ti­ge Tech­no­lo­gie Un­ter­neh­mens­grup­pe, ei­nen Spit­zen­ma­na­ger sucht, des­sen An­for­de­rungs­pro­fil sich wie ein Aus­zug aus Her­ders Cur­ri­cu­lum liest.

Nach ein paar Ta­gen er­hält er den An­ruf ei­ner Frau Streh­lin, die sich als Mit­ar­bei­te­rin der be­sag­ten Hu­man Re­sour­ces Be­ra­tung zu er­ken­nen gibt und ihn um ei­nen Ge­sprächs­ter­min bit­tet. Her­der gibt ihr ei­nen in acht Ta­gen und er­kun­digt sich nach dem Na­men des Ge­sprächs­part­ners. „Sy­bil­le Streh­lin“, ant­wor­tet Frau Streh­lin, leicht amüsiert.

Bei der Lek­tü­re ei­nes Fach­ar­ti­kels über Ka­der­se­lek­ti­on – auch der Be­wer­ber muss nach sei­ner Mei­nung über die Trends auf dem Lau­fen­den sein – stößt er ein paar Ta­ge vor dem Ter­min mit Frau Streh­lin auf die The­se, dass Per­so­nal­be­ra­ter bei ers­ten In­ter­views im­mer häu­fi­ger Frau­en  ein­set­zen, weil die­se ein bes­se­res Flair zur Be­ur­tei­lung der soft skills besäßen.

Na, groß­ar­tig, denkt Her­der, und ver­drängt die Sa­che. Aber am Abend beim Zäh­ne­put­zen fällt sie ihm wie­der ein. Noch be­vor ihm der Ti­mer sei­ner elek­tri­schen Zahn­bürs­te das er­laubt, spuckt er die Zahn­pas­ta aus und wischt sich den Mund. Dann be­trach­tet er sich lan­ge und auf­merk­sam im Spie­gel. Er ver­sucht sich vor­zu­stel­len, er sei nicht Karl Her­der, son­dern ir­gend­je­mand an­de­rer. Zum Bei­spiel Sy­bil­le Streh­lin. Wie wür­de Her­der dann auf ihn wirken?

Wenn er sei­nen ers­ten Ein­druck schil­dern müss­te, wür­de er sa­gen: gut. An­ge­nehm. Ein Mann, in des­sen Nä­he man sich wohl­fühlt. Ein Mann, der ei­ne na­tür­li­che, emo­tio­na­le In­tel­li­genz ausstrahlt.

Aber gut, viel­leicht ist er vor­ein­ge­nom­men. Viel­leicht hat er sich zu sehr mit sei­nem Ge­gen­über be­fasst. Er wen­det sich vom Spie­gel ab, geht zwei, drei­mal im Ba­de­zim­mer hin und her und wen­det sich über­ra­schend wie­der dem Spie­gel zu.

Auch in der spon­ta­nen Be­geg­nung wirkt der Mann sym­pa­thisch. Fast noch mehr. Der er­tapp­te Ge­sichts­aus­druck ver­leiht der gan­zen Per­sön­lich­keit et­was er­fri­schend Jun­gen­haf­tes, dem sich das Ge­gen­über schwer ent­zie­hen kann.

Be­son­ders, wenn es sich da­bei um ei­nen in ei­ne Frau wie Sy­bil­le Streh­lin ver­setz­ten Mann, wie Karl Her­der handelt.

Fort­set­zung

Dass Her­der sich auf das halb­sei­ti­ge In­se­rat ge­mel­det hat, ge­schah aus ei­ner Lau­ne her­aus. Er woll­te bloß wie­der ein­mal sei­nen Markt­wert prü­fen. Wenn er ge­ahnt hät­te, dass man ei­ne Frau auf ihn an­setzt, weil Frau­en an­geb­lich das bes­se­re Sen­so­ri­um für Soft Skills be­sit­zen, hät­te er sich die Brief­mar­ken gespart.

Vor dem Ba­de­zim­mer­spie­gel gab es an Her­ders Wir­kung auf Her­der zwar nichts aus­zu­set­zen. Je­den­falls nicht für Her­der. Aber er hat gro­ße Zwei­fel, ob auch ei­ne Mit­ar­bei­te­rin ei­ner Hu­man Re­sour­ces Be­ra­tung zu so viel Ob­jek­ti­vi­tät in der La­ge ist. Zu­mal es bei der Be­ur­tei­lung der Soft Skills ei­nes Be­wer­bers of­fen­bar um die sub­jek­ti­ve Ein­schät­zung geht. Wenn den Leu­ten an Ob­jek­ti­vi­tät ge­le­gen wä­re (Ma­tu­ra, Masch.-Ing ETH, MBA, mehr­jäh­ri­ge Füh­rungs­er­fah­rung, D/F/E plus I‑Kenntnisse, Wei­ter­bil­dung in Rech­nungs­we­sen, Con­trol­ling und In­for­ma­tik) brauch­ten sie kei­ne Frau zu schicken.

Die Fra­ge ist nun, wie er sub­jek­tiv auf Sy­bil­le Streh­lin wirkt. Da er sie per­sön­lich nicht kennt, ist er auf sei­ne Vor­stel­lungs­kraft (nicht ge­ra­de ei­ne Hard Skill, Frau Streh­lin!) angewiesen.

Sy­bil­le Streh­lin –  so hei­ßen Frau­en mit schma­len ro­ten Lip­pen und De­si­gner­bril­len. Lang­sam nimmt sie Ge­stalt an. Sitzt ihm ge­gen­über hin­ter ei­nem ge­wal­ti­gen Be­spre­chungs­tisch, der sie win­zig aus­se­hen lässt, und macht ei­ne Be­we­gung, die ver­rät, dass sie die Bei­ne über­ein­an­der schlägt. Blät­tert flüch­tig in sei­nen Be­wer­bungs­un­ter­la­gen und re­det vom Wet­ter. Ab und zu macht sie sich mit ei­nem Fül­ler aus ei­ner li­mi­tier­ten Auf­la­ge  bei­läu­fig ei­ne No­tiz in ihr Fi­lofax. Be­ur­teilt auf­grund sei­ner Kör­per­spra­che sei­ne So­zi­al­kom­pe­tenz. Zieht aus sei­ner Kra­wat­te Rück­schlüs­se auf sei­ne Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz. Pro­vo­ziert ihn spie­le­risch, um ein Ge­fühl für sei­ne Kon­flikt­fä­hig­keit zu bekommen.

Bald hat er Frau Streh­lin so plas­tisch vor sich, dass er sich in sie hin­ein­ver­set­zen kann. (Ja, ja, Frau Streh­lin: sich in sein Ge­gen­über hin­ein­ver­set­zen, das kann der Her­der auch.)

Her­der ist jetzt Sy­bil­le Streh­lin. Er schlägt die Bei­ne über­ein­an­der und ta­xiert den Mann in al­ler  Sub­jek­ti­vi­tät. Was er vor sich sieht ist o.k.. Ein Mann in mitt­le­ren Jah­ren, viel­leicht ein we­nig flei­schig zwi­schen Kinn und Kra­wat­te, aber das spricht für sei­ne Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit. Am bes­ten kom­mu­ni­ziert man be­kannt­lich beim Essen.

Er sitzt auf sei­nem Stuhl und wirkt ent­spannt. Ab und zu lässt er ei­ne Hand auf die Knie fal­len, reibt un­auf­fäl­lig die Hand­flä­che an der Ho­se tro­cken und bringt sie wie­der zum Vor­schein. Manch­mal streicht er in ei­ner ra­schen, ge­üb­ten Be­we­gung mit bei­den Mit­tel­fin­gern über die Brau­en. Aber falls der Mann tran­spi­rie­ren soll­te, ist es nicht zu rie­chen. Der herb­süs­se Duft ei­nes De­odo­rants füllt den Raum, seit er ihn betrat.

Ei­ne gan­ze Wei­le lässt Her­der als Sy­bil­le Streh­lin die­sen Mann sub­jek­tiv auf sich ein­wir­ken – wie er lä­chelt, wie er sei­ne Er­fol­ge her­un­ter­spielt, wie er Fach­aus­drü­cke fallenlässt.

Und kommt – völ­lig in­tui­tiv – zum Schluss, dass er an Her­ders Stel­le den Ter­min ab­sa­gen wür­de. So­viel zum The­ma, Her­der be­sit­ze even­tu­ell kei­ne Soft Skills, Frau Strehlin!

3. und 10.4.2000

×
Login

Passwort wiederherstellen

Abonnieren
Jahresabo für 60 Franken
Probeabo

Falls Sie einen Code besitzen, geben Sie diesen hier ein.

Gutschein

Martin Suter kann man auch verschenken.
Ein ganzes Jahr für nur 60 Franken.
Versandadresse: