Geris Antwort
Da steht Geri nun und kann es nicht glauben. Aira, die Unberührbare, hat soeben gesagt: „Lass uns noch eine Grenadine trinken. An einem Tag wie heute.“
Ausser ihnen ist nur noch Reto im Lokal. Er steht gebannt vor der Kasse, die seit ein paar Minuten geräuschvoll die Tagesabrechnung ausdruckt. Es hat viel Betrieb geherrscht in dieser ersten lauen Nacht des Jahres.
Und vor ihm steht Aira, die er sich den ganzen Abend systematisch und gründlich aus dem Kopf geschlagen hat, und lächelt aus ihren eins vierundachzig auf ihn herunter.
Geri kennt keinen Menschen, der nicht gerne nach Lokalschluss mit Aira eine Grenadine getrunken hätte, ausser vielleicht Susi Schläfli. Und keinen mit geringeren Aussichten, jemals in diesen Genuss zu kommen, als ihn selbst.
Wahrscheinlich träumt er. Damit wäre auch erklärt, dass sich seit Airas Frage alles in Zeitlupe abspielt. Und auch, dass er, wie in fast allen seinen Träumen, wie gelähmt ist. Selbst wenn er wüsste was, könnte er nicht antworten.
In seinem Kopf hingegen rast es: Warum er? Wenn sie doch einen hätte fragen können, der aussieht wie Freddy Gut. Oder einen, der Bescheid weiss, wie Robi Meili. Oder einen, der sensibel ist, wie Carl Schnell. Warum stürzt sie den einzigen in dieses Dilemma, für den es eines ist? Vielleicht genau aus diesem Grund. Schöne Frauen können boshaft sein, weiss Geri. Besonders ihm gegenüber. Wahrscheinlich will sie sich über ihn lustig machen. Fragen, ob er mit ihr eine Grenadine trinken wolle und dann tatsächlich nur eine Grenadine trinken. ”Was hast Du gestern gemacht, Geri, als Du als Letzter noch im Club81 geblieben bist?”
”Mit Aira eine Grenadine getrunken.”
”Und?”
”Und nichts.”
Aber wer sollte ihn das fragen? Er ist der letzte Gast im Lokal. Und vielleicht will sie ja wirklich mehr, als einfach nur eine Grenadine trinken. Immerhin hat sie ”an einem Tag wie heute” hinzugefügt. Kaum anzunehmen, dass Aira findet, der erste Tag, an dem es nach Sommer riecht, die erste Nacht, in der die Tür des Club81 bis Lokalschluss offensteht, sei wie geschaffen für nichts weiter als einen Schlummertrunk mit einem Stammgast.
Und falls doch? Dann hätte er mit Aira nach Lokalschluss etwas getrunken. Das ist mehr als die anderen Stammgäste für sich in Anspruch nehmen dürfen. Obwohl: Für sich in Anspruch nehmen würde er es auch nicht dürfen. Denn man wird ihn fragen: ”Und?”
Aber vielleicht wird er ja die Frage nicht mit ”Und nichts” beantworten müssen. Vielleicht wird er bedeutungsvoll schweigen können.
Da fällt ihm ein: Das wird er ohnehin können. Ob es nun bei einer Grenadine bleibt oder nicht. Lass sie darüber spekulieren. Was kann ihm Besseres passieren, als dass die Szene darüber rätselt, was sich zwischen Geri und Aira abgespielt hat in jener ersten Frühsommernacht des Jahres, als sie nach Lokalschluss noch Lust verspürten, zusammen eine Grenadine zu trinken. Selbst wenn eines Tages ans Licht käme, dass sich nichts weiter abgespielt hat, könnte er immer noch durchblicken lassen, dass er aus Solidarität mit Robi Meili, Freddy Gut und Carl Schnell, die Aira alle hat abblitzen lassen, auf alles, was über die Grenadine hinausging, verzichtet habe. Genau betrachtet wäre es sogar viel günstiger, wenn sich weiter nichts abspielen würde.
Aira nimmt jetzt einen Aschenbecher von der Theke und kippt dessen Inhalt weg. Noch ein paar Augenblicke, und sie wird Geris Zögern falsch auslegen. Er öffnet den Mund zu einem freudigen ”Hey, gute Idee”, da fällt ihm ein: Was, wenn es doch nicht bei einer Grenadine oder zwei bleibt? Wie kann er dann verhindern, dass Robi Meili, Freddy Gut und Carl Schnell es nicht als persönlichen, gezielten Affront gegen sie auslegen. Vielleicht ist es ja genau das, was Aira beabsichtigt. Vielleicht will sie Geri missbrauchen als Werkzeug zur Demütigung der drei Leute, von deren Anerkennung er am meisten abhängt.
Geri sieht sich schon mit den anderen beim Apéro sitzen, und Aira zerzaust ihm im Vorbeigehen zärtlich das Haar. Einfach, um Robi Meili, Freddy Gut und Carl Schnell fertig zu machen.
Überhaupt: Was hindert Aira daran, ihn nach der Grenadine nach Hause zu schicken und ihn am nächsten Tag dennoch vor allen anderen mit einem Kuss auf den Mund zu begrüssen?
Geri hätte Airas Grenadine abgelehnt, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihn nicht mit grosser Mehrheit davor bewahrt hätten.
Herzlichen Dank.
Geri Weibel und Martin Suter