Geri und Knuffel (2)

Als er die De­cke zu­rück­schlägt, liegt da ein Stück Pelz, das ihm bei­na­he ins Ge­sicht schnellt und haar­scharf an ihm vorbeizischt. 

Ge­ri lässt sich rück­wärts ins Bett fal­len und war­tet, bis sich das Herz­ra­sen legt. Er muss lan­ge warten. 

Als sein Puls auf schät­zungs­wei­se 100 ge­fal­len ist, ist auch sein Ge­hirn wie­der ei­ni­ger­mas­sen in der La­ge, zu den­ken. Es denkt: Das Tier muss verhält­nismässig klein sein, falls es nicht durch die ho­he Ge­schwin­dig­keit op­tisch ver­kürzt wur­de. Denn je schnel­ler das En­de ei­ner Sa­che ört­lich des­sen An­fang er­reicht, des­to klei­ner muss es ja auf das mensch­li­che Au­ge wir­ken. Je­den­falls in Ge­ris Op­tik- und Phy­sik­ver­ständ­nis, die al­ler­dings bei­de nicht sehr tief sind. 

Doch in der jet­zi­gen Si­tua­ti­on ist er ge­neigt, den Grö­ßen­un­ter­schied zwi­schen z. B. Weg­schne­cke und Wald­amei­se auf de­ren un­ter­schied­li­che Mo­bi­li­tät zurückzuführen. 

Den­noch: Rie­sig konn­te das Tier nicht sein. Aber so sieb­zig bis acht­zig Zen­ti­me­ter lang schon. Und of­fen­sicht­lich ver­dammt flink. Plus – nicht zu un­ter­schät­zen – mög­li­cher­wei­se auch schlau. 

Viel­leicht ist der Hund nicht ge­flo­hen. Viel­leicht woll­te er le­dig­lich ei­ne stra­te­gisch vorteil­haftere An­griffs­po­si­ti­on ein­neh­men. Se­hen und nicht ge­se­hen werden. 

Was hin­ge­gen eher ge­gen die Theo­rie des gros­sen schar­fen Hun­des spricht, ist die Far­be des Fells. Es ist kei­ne sehr ge­fähr­lich wir­ken­de wie schwarz oder dun­kel­braun oder feu­er­rot oder ge­ti­gert. Es han­delt sich mehr um so ein Hell­braun, Beige, ja fast so ei­ne Art Crème. 

Oder gar apri­cot? Wie von ei­nem Zwergpudel? 

Und auch die Be­schaf­fen­heit scheint kaum furcht­erre­gend: We­der strup­pig noch drah­tig noch räu­dig. Eher sei­dig-lau­schig, ins Ku­sche­li­ge ge­hend, ins Knuf­fe­li­ge. Be­stimmt da­her der Na­me des Tie­res. Hoffentlich. 

Ge­ri be­schliesst, sich still zu ver­hal­ten. Er war­tet ei­ne Wei­le ab. Und als er si­cher ist, dass der Feind die glei­che Tak­tik wählt – das Still­hal­ten – kriecht er un­ter die Decke. 

Et­was Feuch­tes auf den Lip­pen weckt ihn. 

Ge­ri fährt hoch und blickt er­schro­cken in ein paar ha­sel­nuss­brau­ne Au­gen. Sie schau­en ihn so lieb und zärt­lich an, dass der Schrei, der ihm ent­fah­ren will, erstickt. 

Ei­ne win­zi­ge ro­te Zun­ge schnellt aus ei­ner klei­nen Schnau­ze und leckt Ge­ris Lippen.

Er wischt sie mit dem Är­mel ab und sagt, et­was schüch­tern: «Pfui.»

Der klei­ne Hund we­delt und leckt wie­der blitz­schnell Ge­ris Lippen.

«Pfui, Knuf­fel», schimpft Ge­ri, jetzt et­was energischer.

Das Tier­chen er­kennt sei­nen Na­men und bellt be­geis­tert. Es springt vom Bett und rennt freu­dig kläf­fend zur Aus­gangs­tür. Dort war­tet es.

War­tet noch ein biss­chen und stiebt dann zu­rück. Es springt aufs Bett, leckt Ge­ri noch ein­mal kurz und schaut ihn er­war­tungs­voll an.

Ge­ri mus­tert ihn auch. 

Knuf­fel ist höchs­tens fünf­zig Zen­ti­me­ter lang und viel­leicht halb so hoch. Und, ja, er ist ein biss­chen so, wie Ge­ri sich «apri­cot» vorstellt.

Das Fell ist luf­tig ge­lockt, der Schwanz ragt erst in die Hö­he und krümmt sich dann wie der obe­re Teil ei­nes bu­schi­gen Fragezeichens.

Der Winz­ling steht auf dem Kopf­kis­sen, reg­los wie ausgestopft. 

Und plötz­lich: «Wuff!»

Ge­ri zuckt zu­sam­men, Knuf­fel springt vom Bett, rast zur Tür und kratzt daran.

Er will raus, denkt Ge­ri. «Willst du raus?»

Knuf­fel bellt zustimmend.

Viel­leicht ist das die Lö­sung. Ich lass ihn raus und mach die Tür zu und geh zu­rück ins Bett.

Ge­nau!

Als Ge­ri auf­steht, um­tän­zelt ihn Knuf­fel auf­ge­regt und springt im­mer wie­der bel­lend an ihm hoch.

Ge­ri geht zur Tür und linst durch den Spi­on in den Hof hinaus. 

Die Luft scheint rein zu sein. 

Ge­ri öff­net die Tür ei­nen Spalt  – und schon ist Knuf­fel draussen.

Durch den Spi­on sieht er, wie das Tier im Zick­zack kurz durch den Hof schnüf­felt und sich dann un­ver­mit­telt hinkauert.

Al­so nicht der Knuf­fel, die Knuf­fel, denkt Ge­ri noch, dann kriecht er wie­der ins Bett. Er nimmt sein Han­dy vom Nacht­tisch und ruft Hans­pe­ter an.

Die Per­son, de­ren Num­mer er ge­wählt ha­be, sei zur Zeit nicht zu er­rei­chen, sagt ei­ne Stimme.

Mit ei­nem Fluch legt Ge­ri das Pho­ne zu­rück auf den Nacht­tisch und stellt sich schlafend. 

Aber schla­fen kann er nicht. 

Knuf­fel ge­hört ei­ner Freun­din von Hans­pe­ter. Viel­leicht lebt die auf dem Land. Viel­leicht ist er, al­so sie, sich kei­ne Au­tos ge­wohnt. Viel­leicht hat sie noch nie ei­nes ge­se­hen. Viel­leicht rennt sie, ver­spielt wie sie, fröh­lich auf das erst­bes­te Au­to zu, kläfft es an, stellt sich ihm in den Weg und …

Ge­ri schlägt die Au­gen vor die Hän­de. Aber das Bild der über­fah­re­nen Knuf­fel ver­schwin­det nicht.

Er streift sich Ho­se und Pull­over über das Py­ja­ma und geht in den Hof hinaus.

Weit und breit kei­ne Knuffel.

 «Knuf­fel!», ruft er leise.

Kei­ne Antwort.

Er ruft lau­ter. Und noch et­was lau­ter. Und im­mer lauter.

Nichts zu hö­ren als der be­droh­li­che Mor­gen­ver­kehr vor dem Hofeingang.

Ge­ri geht hin­aus und be­ginnt, die Um­ge­bung ab­zu­su­chen. Zu­erst stumm, dann lei­se ru­fend, dann im­mer lauter.

Hof­fent­lich sieht mich nie­mand Be­kann­tes, denkt er zu­erst. Aber je er­folg­lo­ser sei­ne Ru­fe, des­to ega­ler wird es ihm.

Gu­te an­dert­halb Stun­den irrt er durch die nä­he­re und wei­te­re Nach­bar­schaft. Im­mer lau­ter ru­fend und wahl­los Pas­san­ten an­spre­chend. «Ha­ben Sie ein klei­nes Hünd­chen ge­se­hen? Apricot?“

Durch­fro­ren und den Trä­nen na­he kehrt er zur Mi­ni­loft zurück.

Vor der Tür steht Frau Stein­mer, die Be­sit­ze­rin des Se­cond-Hand-Shops ne­ben­an. Sie hält et­was in den Ar­men. Apri­cot. Lebend.

«Ist das de­ins?», fragt sie.

Ge­ri zö­gert kei­ne Sekunde.

«Ja.»

Fort­set­zung folgt

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