Eine Flüstergeschichte

Ein Text, den Martin Suter vor zwanzig Jahren geschrieben hat. Wenn er sich richtig erinnert, für die First-Class-Passagiere der längst gegroundeten Fluggesellschaft Swissair.
Zu Ihrer Entspannung habe ich die folgenden Zeilen in geflüsterten Buchstaben abgefasst. Wenn Sie sie lesen, bilden sich in Ihrem Kopf ausschließlich geflüsterte Wörter. Sie können gerne versuchen, sie laut auszusprechen. Sie werden feststellen, dass es Ihnen nicht gelingt. Jeder Versuch, sie auch nur halblaut zu betonen, würde sie zerstören, so fragil sind sie.
Nehmen Sie zum Beispiel dieses U. Und jetzt versuchen Sie ihm etwas Stimme zu geben. Noch etwas. Noch etwas. Da! Haben Sie es gespürt? Es hat sich in Nichts aufgelöst, wie ein Stäubchen Puderzucker.
Dieses Opfer eines geflüsterten Us war nötig, um Sie von weiteren Versuchen abzuhalten, Buchstaben, Wörter oder gar ganze Sätze aus diesem Text durch laute Aussprache zu zerstören. Denn geflüsterte Buchstaben werden aufgrund der sinkenden Nachfrage nicht mehr hergestellt. Dabei waren sie vor noch nicht allzu langer Zeit sehr verbreitet.
Allein schon die Gutenachtgeschichten sicherten während Generationen das Überleben der Hersteller geflüsterter Buchstaben. „Es war einmal ein Kätzchen namens Plusch, das immer müde war“ geht nicht mit lauten Buchstaben. Und für die Herstellung der weniger jugendfreien Geschichten waren geflüsterte Buchstaben erst recht ein gebräuchlicher Grundstoff.
Aber in den letzten Jahrzehnten ist das Verfertigen von stimmlosen Buchstaben ein brotloser Beruf geworden. Die letzten, die dieses Handwerk beherrschten, sind ausgestorben oder zur Konkurrenz übergelaufen. Sie stanzen in lärmigen Werkhallen die lauten Töne unserer Zeit. Die leisen sind heute ein Luxusartikel geworden. Genau aus diesem Grund sollen sie an dieser Stelle verwendet werden. Man soll nicht bei den Rohstoffen sparen.
Für mich stand von Anfang an fest, dass eine Geschichte, zu der sich Menschen zurücklehnen und entspannen sollen, geflüstert sein muss. Für einmal war ich mir sicher, dass die Form über dem Inhalt zu stehen hatte. Wer darauf angewiesen ist, seine Erholungsphasen auf die Zeiten zwischen den Destinationen zu verlegen, sollte durch nichts bei der Beschäftigung gestört werden, die der Erholung von Geist und Körper am zuträglichsten ist: dem Nichtstun.
Sie werden einwenden, dass Sie nicht dem Nichtstun frönen und gleichzeitig lesen können. Das ist ein Einwand, den ich vorausgesehen und ernstgenommen habe. Ich kann nicht behaupten, dass er meine Aufgabe erleichtert hätte.
Der Text musste also so beschaffen sein, dass man ihn auch genießen kann, ohne ihn zu lesen. Allein das Bewusstsein, dass er bis auf das letzte Komma geflüstert ist, muss sowohl seinen Leser als auch seinen Nichtleser in diesen Zustand absoluter Entspannung versetzen, auf den er Anspruch hat.
Um festzustellen, ob das gelungen ist, bitte ich Sie nun, das Lesen für eine beliebig lange Zeit einzustellen und nur dem Geflüster zu lauschen, das die Lektüre beziehungsweise Nicht-Lektüre dieser Zeilen in Ihnen hat entstehen lassen. Bei manchen Leuten hilft es, wenn sie dazu die Augen schließen. Jetzt.
Hören Sie es? Wie es tuschelt und zischelt, wispert und fispert?
Wenn Sie jetzt der Schlaf übermannen will, müssen Sie nicht aus Höflichkeit dagegen ankämpfen. Dieser Text hat nicht zur Aufgabe, Sie wach zu halten. Im Gegenteil: Dieser Text hat sein Ziel erreicht, wenn Sie über ihm einschlafen.
Ist es nicht ein wunderbares Flüstern? Nicht beunruhigend wie das Ihrer Eltern, wenn sie etwas vor Ihnen zu verbergen hatten. Nicht bedrohlich wie das Ihrer Klassenkameraden, wenn sie sich gegen Sie verschworen.
Aus derartigem Geflüster ist keiner dieser Buchstaben beschaffen. Ich habe nur reinste Ware verwendet: das Flüstern für Kinder, die sich schlafend stellen. Das Flüstern für Geheimnisse, das das Ohr kitzelt. Das Flüstern beim Christbaumschmücken. Das Flüstern der Zahnfeen. Das Flüstern zwischen den Küssen.
Unterschätzen Sie die Mühen nicht, die ich auf mich genommen habe, um Flüsterbuchstaben von dieser Qualität zu finden. Sie werden, wie schon erwähnt, nicht mehr hergestellt. Ich war auf Quellen angewiesen, die ich hier lieber nicht nennen will. War nicht zimperlich bei der Wahl meiner Mittel. Habe Gedichte geplündert und mich an Sinnsprüchen vergriffen, nur um zu ein paar Zischlauten zu kommen, die ich Ihnen zumuten kann. Habe Liebesseufzer und Traumgemurmel eingefangen für eine Handvoll Vokale, die Ihren Ansprüchen gerecht werden.
Aber damit allein lässt sich noch kein Text herstellen, der die therapeutisch vorgeschriebene Mindestdauer an Geflüster gewährleistet. Ich war gezwungen, selbst Buchstaben anzufertigen. Lauschen Sie zum Beispiel diesem I. Wann haben Sie das letzte Mal ein geflüstertes I gehört? Noch dazu ein auf diese Art geflüstertes. Es würde mich nicht überraschen, wenn es das erste Mal wäre. So geflüsterte I’s werden nämlich aus aufkommendem Westwind in jungen Silberpappeln an menschenleeren Ufern fischreicher Flüsse bei einunddreißig Grad im Schatten gemacht.
Ich habe allein für die Beschaffung des Rohmaterials dieser geflüsterten I’s mehrere Sommer lang das mittel- und südeuropäische Hinterland mit dem Fahrrad bereist, bis es mir, an einem Julinachmittag an einem Ort, der mein Berufsgeheimnis bleiben soll, zugeflogen ist. Soll einer sagen, es hätte sich nicht gelohnt. Geflüsterte Vokale sind ja an sich schon eine Rarität. Vokale werden praktisch nur noch mit Stimme hergestellt. Aber diese I’s kann man sogar aneinanderreihen, ohne dass sie einem durch Mark und Bein gehen: Iiiii. Sehen Sie.
Konsonanten sind einfacher, sollte man meinen. Aber lassen Sie sich einmal dieses Z auf der Zunge zergehen. Es besteht aus nichts als dem ersten Augenblick des ersten Zirpens der ersten Zikade am ersten von fünfzig Tagen des Nichtstuns ohne schlechtes Gewissen. Was habe ich alles angestellt, um Sie in den Genuss dieses Z kommen zu lassen. Jahre habe ich an Zikadenstränden mit Nichtstun verbracht und mir das Gewissen mit tropischen Cocktails vom Leibe gehalten. Aber hätte ich ohne dieses Opfer hier einfach unvermittelt Zäziwil einstreuen können, ohne Sie jäh aus dem Halbschlaf zu reißen? Oder Zizers?
Hören Sie es flüstern? Die H’s sind aus dem Hauch an die Fensterscheiben alter Bauernhäuser in kalten Nächten. Die A’s aus dem Staunen, wenn er am nächsten Morgen zu einer Eisblume erblüht ist.
Die B’s sind aus dem Platzen von Seifenblasen, wenn sie über einer Sommerwiese mit dem Flugsamen des Löwenzahns zusammenstoßen.
Und wollen Sie wissen, woraus ich die CH’s mache? Aus dem Fauchen freilebender drei Wochen alter bengalischer Albinotiger. Wann haben Sie von einem Schweizer schon einmal solche CH’s gehört?
Ich habe D’s aus dem Aufschlagen eines Tröpfchens Nektar auf einem Tropfen Morgentau. R’s aus dem Schwirren petrolgrüner Kolibris vor den Kelchen frisch erblühter Strelizien. Und F’s aus dem Perlen in den seltenen Champagnerkelchen, die ich unberührt an mir vorübergehen ließ.
Was Sie also hier vor sich haben, ist ein absoluter Luxustext. Zumindest, was die verwendeten Rohstoffe angeht. Da ist die Frage des Inhalts von zweitrangiger Bedeutung. Ich könnte hier eine beliebige Geschichte schreiben, solange der Stoff, aus dem sie gewoben ist, für das Flüstern sorgt. Ich könnte allenfalls die Wortwahl ein wenig nach der Ausgewogenheit von Vokalen und Konsonanten richten und vielleicht besonders flüsterfreundliche Zischlaute leicht übergewichten. Ich könnte mich auch darauf verlassen, dass bei der verwendeten Flüsterqualität die meisten Leser mittlerweile so entspannt sind, dass sie irgendeiner Geschichte lauschen würden, vorausgesetzt, sie ist geflüstert.
Aber ganz so uneingeschränkt ist auch die Freiheit des flüsternden Erzählers nicht. Es gibt zum Beispiel Wörter, die sich nicht flüstern lassen. Leitzinssatzerhöhung. Oder Natrium-Schwefel-Akkumulator. Oder Persönlichkeitsprofil. Um nur die gängigsten zu nennen.
Geflüsterte Geschichten sollten durch ihren Inhalt idealerweise ihre Form unterstützen. Zum Beispiel sollten Murmeltiere darin vorkommen.
Murmeltiere sind schon in laut geschriebenen Texten erstaunlich schlaffördernd. Ein geflüsterter Text könnte eigentlich nur aus dem Wort Murmeltier bestehen. Aber natürlich gewinnt er zusätzlich an Wirkung, wenn man ihn um ein paar Elemente bereichert: „Lehnen Sie sich zurück und stellen Sie sich vor, Sie halten ein frisch gebadetes, schlafendes Murmeltier in den Armen“, ist – geflüstert – eine unfehlbare Einschlafgeschichte. Die M’s aus dem Lächeln eines schüchternen Stummfilmstars, das U aus dem Wind, das ein vorbeiziehender Schwarm Zitronenfalter verursacht. Die L’s das Versinken eines Tannenzapfens im Neuschnee. Die R’s, wie bereits erwähnt, das Schwirren des Kolibris vor der Strelizie.
An dieser Stelle hat sich jeweils die Mehrheit der Testleser und ‑nichtleser wenn nicht im Tief‑, dann zumindest im Halbschlaf befunden. Wenn Sie also jetzt noch ganz wach sind, empfehle ich Ihnen, noch einmal ein Stück zurückzublättern. Am besten bis zur Stelle: „Es war einmal ein Kätzchen namens Plusch, das immer müde war.“ Von dort aus können Sie dann weiterlesen.
Ach, Sie möchten die Geschichte von Plusch dem Kätzchen hören? Die gibt es nicht. Ich habe sie erfunden, weil Plusch so schön flüstert. Pluuusch. Pluuusch. Pluuusch.
Warum Plusch immer müde war? Weil Plusch gar kein Kätzchen war. Plusch war ein Murmeltierchen. Das wusste es aber nicht, weil es zu müde war, um in den Spiegel zu schauen. Sehen Sie, jetzt sind Ihnen auch die Augen zugefallen. Wussten Sie übrigens, dass man früher aus Wimperschlägen geflüsterte W’s herstellte? Eine alte, längst in Vergessenheit geratene Technik. Ich selbst verwende für W’s das Niesen junger Spitzmäuse. Ach, Sie hören mir gar nicht mehr zu. Aber ja, nehmen Sie ruhig den Daumen, hier sieht Sie niemand.
Für die anderen hier unten beginnen sich die Flüsterbuchstaben jetzt in ihren ursprünglichen Zustand aufzulösen. Aufkommender Westwind in jungen Silberpappeln an menschenleeren Ufern fischreicher Flüsse bei einunddreißig Grad im Schatten vermischt sich mit dem ersten Augenblick des ersten Zirpens der ersten Zikade am ersten von fünfzig Tagen des Nichtstuns ohne schlechtes Gewissen. Dazwischen der Hauch an Fensterscheiben alter Bauernhäuser in kalten Nächten. Und das Platzen von Seifenblasen beim Zusammenstoß mit dem Flugsamen des Löwenzahns.
Das Flüstern wird leiser. Immer leiser. Und langsam werden Träume daraus.
Hören Sie nur: diese Stille.
Die, die unbedingt im Traum sprechen müssen, sind gebeten zu flüstern.