Zu viel Freud, zu wenig Leid

„In den letz­ten Abend­stun­den des 13. Ja­nu­ar 1993 ist An­na Gas­ser-Om­lin im Al­ter von 82 Jah­ren gott­er­ge­ben ins bes­se­re Jen­seits ge­schlum­mert. An­na Gas­ser-Om­lin wur­de am 24. Au­gust 1910 in Säch­seln, Spis, ge­bo­ren. Un­ter acht Ge­schwis­tern er­lebte sie ei­ne schö­ne aber har­te Ju­gend­zeit. An­na war erst 16 Jah­re alt, da starb die lie­be treu­be­sorg­te Mut­ter. So muss­te An­na schon mit 17 Jah­ren in die Stel­len ge­hen. Über­all, wo sie dien­te, muss­te sie streng ar­bei­ten. Den Lohn, den An­na ver­dien­te, schick­te sie heim.“

„Zu­sam­men mit sei­nen Ge­schwis­tern er­leb­te Ro­bert Zehn­der- Grob ei­ne wirk­lich har­te und ent­beh­rungs­rei­che Kin­der- und Ju­gend­zeit, wel­che sein gan­zes Le­ben präg­te. (…) Nach sei­ner Ar­beits­lo­sig­keit fand er 1937 Ar­beit in der Pa­pier­fa­brik Cham. Als Schicht­ar­bei­ter ver­dien­te er ei­nen kar­gen Lohn. (…) Ge­sund­heit­li­che Grün­de zwan­gen ihn im Jah­re 1963 die schwe­re Schicht­ar­beit in der Pa­pier­fa­brik auf­zu­ge­ben. Im Som­mer 1969, am Hoch­zeits­tag sei­nes äl­tes­ten Soh­nes, er­litt er ei­nen Zu­sam­men­bruch, von dem er sich nie mehr rich­tig er­holen konn­te. (…) Der Schöp­fer schen­ke ihm nun das Le­ben in Fülle.“

So tönt es in den Nach­ru­fen des Ob­wald­ner Wo­chen­blat­tes vom 2. April 1993, das in Gis­wil her­aus­kommt, wo Rue­di Ry­mann da­heim ist. Und im „Scha­cher-Sepp­li“, ei­nem Volks­lied, das Rue­di Ry­mann vor fünf­zehn Jah­ren oh­ne Pro­ben auf­nahm, weil noch Platz auf der Plat­te war, heisst es:

Und chum i de vor d Him­mels­tür / staht breit der Pe­trus da, er rüeft mer zio: „Eh, salü Sepp / bisch dui nun oi scho da!

Chum nu­mä inä, chum und leg / dis Him­melsgwänd­li a, / diä ar­me und ver­lass­ne Lüt, / müends scheen im Him­mel ha!“

Das Lied vom Va­gan­ten Scha­cher-Sepp­li wur­de ein ab­so­lu­ter Hit mit weit über 100’000 ver­kauf­ten Ton­trä­gern und mach­te den jo­deln­den Wild­hü­ter, das Na­tur­ta­lent Rue­di Ry­mann, end­gültig zum Star der Schwei­zer Volks­mu­sik. Be­stimmt we­gen sei­ner schö­nen Stim­me, be­stimmt we­gen der ein­gän­gi­gen Melo­die. Aber wohl auch, weil da zur Ab­wechs­lung ein Text ei­nes Jo­del­lie­des au­then­tisch ist. Das ist näm­lich ein sel­te­ner Fall, ob­wohl die „Ge­sell­schaft für Volks­mu­sik in der Schweiz“ als gän­gi­ge De­fi­ni­tio­nen von Volks­mu­sik her­vor­hebt, sie sei „Aus­druck des na­tür­li­chen Le­bens­ge­fühls“, sie ha­be „re­gio­na­len Cha­rak­ter“ und fol­ge „so­zio­lo­gi­schen Mass­stä­ben, d.h. un­ge­schrie­be­nen Re­geln (Ge­spür)“ und sie müs­se „der Men­ta­li­tät des In­ter­pre­ten entsprechen“.

Was die Tex­te an­geht, ent­spricht die Schwei­zer Volks­mu­sik sel­ten den De­fi­ni­tio­nen der „Ge­sell­schaft für Volks­mu­sik in der Schweiz“. Auch nicht in Be­zug auf ih­re „Wand­lungs- und Si­tua­ti­ons­an­pas­sungs­fä­hig­keit“. Am ehes­ten er­füllt sie noch das Kri­te­ri­um, dass sie sich „lang­sa­mer als die E‑Musik und die U‑Musik ver­än­dert und nicht mo­disch sein muss“.

Und da­bei hat die Volks­mu­sik der Schweiz fast nichts an­de­res als die Tex­te, um den ei­ge­nen De­fi­ni­tio­nen zu ent­spre­chen. Dar­über, wie au­then­tisch die Mu­sik ist, ist näm­lich we­nig bis nichts be­kannt. Es gibt, im Ge­gen­satz zu den Tex­ten, kaum Auf­zeich­nun­gen von Me­lo­dien, die äl­ter sind als zwei­hundert Jah­re. Das, was man heu­te all­ge­mein un­ter Schwei­zer Volks­mu­sik ver­steht, wur­de meis­tens für die Kur­gäs­te ge­schrieben und ist kei­ne hun­dert Jah­re alt.

Al­so nicht ein­mal fünf­zig Jah­re äl­ter als Ted­dy Stauf­fers Swing „Stä­ge­li uf, Stä­ge­li ab, Ju­he­ei“. Nicht ein­mal sech­zig Jah­re äl­ter als Paul Burk­hards und Wal­ter Leschs Song „Mir mag halt nie­mer öp­pis gu­ne“. Nicht ein­mal sieb­zig Jah­re äl­ter als Ma­ni Mat­ters Chan­son „Hei­di, mir wei di bei­di. Nicht ein­mal acht­zig Jah­re äl­ter als „Rum­pel­stilz“ Reg­gae „Bi­ni gopf­ri­d­stutz e Ki­osk“. Nicht ein­mal fünf­und­neun­zig Jah­re äl­ter als „Zü­ri Wests“ Rock „Redt si no vo mir?“. Das, was man heu­te all­ge­mein un­ter Schwei­zer Volks­mu­sik ver­steht, ist nicht ein­mal hun­dert Jah­re äl­ter als Ste­phan Ei­chers Inter­pretation von Ma­ni Mat­ters „Hem­mi­ge“, des­sen Re­frain das fran­zö­si­sche Pu­bli­kum an Kon­zer­ten mitsingt.

Das al­les sind Schwei­zer Hits, de­ren Mu­sik zwar an­ders aber nur um ein paar Jahr­zehn­te we­ni­ger au­then­tisch ist als die an­de­re Schwei­zer Volks­mu­sik. Was wohl die Be­haup­tung zu­lässt, dass die Schwei­zer Volks­mu­sik ih­re Schwei­zer Identi­tät und Au­then­ti­zi­tät vor al­lem aus der Spra­che bezieht.

Aber wäh­rend seit dreis­sig Jah­ren das Mund­art Chan­son, der Mund­art Song, der Mund­art Rock, der Mund­art Blues boomt, weil sie heu­ti­ge Ge­schich­ten, Ge­füh­le, Si­tua­tio­nen, Emo­tionen in der Spra­che, in der wir den­ken und füh­len er­zäh­len, lässt sich die or­ga­ni­sier­te Schwei­zer Volks­mu­sik von den Süss­holz­ras­peln des volks­tüm­li­chen Schla­gers die Iden­ti­tät rau­ben und ruft in ge­har­nisch­ten Stel­lung­nah­men an die Ver­an­stal­ter des „Grand Prix der Volks­mu­sik“: „Hal­tet den Dieb!“.

Ver­las­sen sich die Au­toren der Schwei­zer Jo­del­lie­der so fel­sen­fest auf die Au­then­ti­zi­tät ih­res Sounds, dass sie die­je­ni­ge ih­rer Ly­rics seit Jah­ren vernachlässigen.

Schon die The­men­pa­let­te ist ste­reo­typ: „Kuh­rei­hen, Alpauf­zug, Al­pab­fahrt, Lob des Bau­ern- und Küher­stan­des, Na­tur- und Berg­freu­de, Lie­bes­ly­rik, älp­le­ri­sches und länd­li­ches Brauch­tum, Lob der en­ge­ren Hei­mat und des Schweiz­er­lan­des“, so nennt es der eid­ge­nös­si­sche Jod­ler­ver­band. „Kri­tik des Bau­ern- und Küher­stan­des“ ist nicht vor­ge­se­hen, da kön­nen die Bau­ern noch so kla­gen. Auch wenn nie­mand im Ernst die Ein­füh­rung des Pro­test­jo­dels for­dert, das un­un­ter­bro­che­ne Lo­ben ist nun ein­mal nicht „Aus­druck des na­tür­li­chen Lebens­gefühls“. Es ge­hen im Jahr meh­re­re dut­zen­de Bauern­betriebe ein. Das müss­te doch ein Lied ge­ben. Es wer­den doch Hei­met­li ver­stei­gert, Ern­ten ver­ha­gelt und Sub­ven­tio­nen ge­kürzt. Das ge­hört doch auch zum Bau­ern- und Küher­stand und gibt doch schö­ne Lie­der. Schö­ne, trau­ri­ge Lieder.

Er­schie­nen 1993 im Kul­tur­ma­ga­zin DU.

Hier geht es zum Teil 2 und Teil 3 des Berichtes.

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