Das eidg. dipl. Volkslied
Das Jodellied ist eigentlich eine Erfindung des 1910 gegründeten Eidgenössischen Jodlerverbandes, der die damalige Blüte der Mundartdichtung aufgriff. Er „nahm die Förderung und ideelle Betreuung zielbewusst an die Hand“, wie es in der Festschrift zum 75jährigen Bestehen dieses Verbandes heisst. „Mit der Begrenzung der Sängerzahl und der strikten Vorschrift, alle Vorträge auswendig und ohne Direktion singen zu müssen, zwang er den Komponisten zur volksliedangepassten Einfachheit in der Melodik und in der Harmonie. Damit wurde zugleich viel von der Spontaneität des überlieferten Stehgreifsingens“ (nein, nicht geopfert, sondern:) „ins neue Quartettsingen hineingetragen.“
Seit 1924 werden alle drei Jahre Eidgenössische Jodlerfeste ausgetragen, an denen sich die Jodler strengen Kampfrichtern stellen, die sie nicht etwa danach, ob ihre Musik den erwähnten „ungeschriebenen Regeln (Gespür)“ folgt, sondern nach genauen Regiementen bewerten. Es gibt Abzüge für überdehnte oder verhastete Partien, schwerfällige Auftakte, falsch gesetzte Zäsuren oder Fermaten. Der Gesamteindruck wird bewertet. Es gibt genaue Vorschriften darüber, welche Art von Hemden getragen werden soll, zu welcher Tracht der Hut und zu welcher das Chäppi gehört, wann und wo die Kopfbedeckung getragen wird. Wie die Jodlerinnen und Jodler singen und was sie dazu tragen gibt am Kampftisch Punkte. Aber das Bewertungssystem, das am Eidgenössischen Jodlerfest 1984 in Kraft trat, sah keine Möglichkeit vor das, was sie singen, in die Beurteilung miteinzubeziehen.
Vielleicht ist dieses gestörte Verhältnis der Eidgenössischen Jodler zur Lyrik ihrer Lieder weniger ein Ausdruck von Gleichgültigkeit als einer von Angst. Wie schnell wird doch ein wahres Lied ein politisches. Und wie leicht findet man sich mit einem politischen Lied im falschen Lager wieder. Da lässt man lieber die Finger von den Texten und konzentriert sich auf den ordonnanzmässigen Vortrag.
Von den andern, die auch noch Schweizerdeutsche Lieder machen, hat man sich schon lange distanziert: Vor sechzehn Jahren, als das Schweizer Fernsehen unter dem Titel „Mir Senne heis luschtig“ in einem Versuch, die Zuschauer auf unterhaltsame Art für die Belange des Volksliedes zu sensibilisieren, unter der Leitung von Urs Böschenstein sechs Jodlerpräsidenten, einen Musikwissenschaftler und ein paar Liedermacher zu einem Gespräch einlud, hieß es im Protokoll des Jodlerverbandes: „Wie sich bald zeigt, möchte Urs Böschenstein sich selbst und seine Liedermacher in den Vordergrund stellen und die Jodler fertig machen. (…) Glücklicherweise hat das Ganze auch eine positive Seite, erleben doch die vielen Fernsehzuschauer den krassen Unterschied zwischen guten Jodelvorträgen und den dargebotenen Blödeleien dieser Liedermacher.“
Vielleicht hat es auch mit dieser Abschottung gegenüber denen, die mit ihren Liedern wahre Geschichten erzählen wollen, zu tun, dass heute unter anderem ein österreichisches Duo die Schweiz an dem Anlass vertritt, den man aufgrund eines Vorstosses der einschlägigen Landesverbände nicht mehr „Grand Prix der Volksmusik“ nennen darf, der es aber immer noch ist.
Jost Marty, Lehrer und Komponist, klagt in der Festschrift des Jodlerverbandes: „Kurz nach der Jahrhundertwende war der Tiroler-Einfluss die erste Welle, die durch das neuerwachte Jodellied glücklich überwunden werden konnte (denkste!). Heute rüttelt eine zweite Welle an der Existenz des Volks und Jodelgesangs, die Flut der lärmigen Rhythmen, die vor allem die Jugend zu erfassen sucht. Durch die Massenmedien ist die Schweiz ganz besonders diesem ausländischen Einfluss ausgesetzt.“ Dann folgt die Liste der Komponisten und Textdichter, die die Jugend aus dieser Welle in die stille Bucht des Jodelgesangs retten sollen. Von den 91, die zu diesem Zeitpunkt noch lebten und ein Geburtsjahr angaben, betrug das Durchschnittsalter 61 Jahre.
Dabei wäre der Text ein Mittel, die Volks- und Jodellieder auch für junge Leute, die ja musikalisch längst nicht mehr so dogmatisch sind wie die Alten, zugänglich oder sogar populär zu machen. Wenn die Jodellieder authentischere Texte hätten, würden sie nicht so leicht durch volkstümliche Schlager unter Druck geraten.
Dass Jodellieder auch wahr sein können, hat einer der Grossen der Schweizer Jodelgeschichte bewiesen. Er hiess Jakob Ummel, besass eine Naturstimme, die man aus hunderten herauskannte, war Tramführer in Bern und starb im letzten Jahr im Alter von 97 Jahren, viele Jahre älter als das Eidgenössische Jodellied. Er hat neun Hefte voller Jodellieder und Naturjodel hinterlassen, von denen eines der schönsten und auch populärsten nicht dem Lob des Bauern- und Küherstandes sondern dessen, wenn auch versöhnlicher, Kritik gewidmet ist. Das Lied vom Knechtlein Ruedeli:
Sing, Ruedeli, sing; sing, Ruedeli, sing, / der Tag isch läng der Lohn isch gring, / doch heisst es gäng hü Chnächtli spring, / sing, Ruedeli, sing, der Lohn isch grüseli gring.
Wetz, Ruedeli, wetz; wetz, Ruedeli, wetz, / im Summer het me bös u ztüe / mit anger Lüte ihrer Chüe / wetz, Ruedeli, wetz, bis dass der Schweiss di netzt.
So, Ruedeli, so; so, Ruedeli, so, / am Sunntig gani d’Site uf / u jutz eis übers Dörfli us, / so, soseli, so, hüt soll mir keine cho.
Das Lied hat Jakob Ummel erstmals 1945 herausgegeben. Wieder populär gemacht hat es Ruedi Rymann in den Siebzigerjahren. „Ryma Riodi“, wie man ihn bei ihm zu Hause nennt, hat sowieso ein feines Gespür für das, was ankommt. Von ihm stammt der Dauerbrenner „Gemsjäger“ , der Jodel vom Seppel, von dem er singt „vil lieber als ä schöne Meitlirock, hed der Sepp si schwarze Gemselibock. “ (Ja, Sie kennen es aus Bahnhöfen, Raddampfern oder Rekrutenschulen.) Ruedi Rymanns Musik entspricht in vieler Hinsicht genau der Definition der Volksmusik. Sie ist „Ausdruck seines natürlichen Lebensgefühls “ und sie „entspricht der Mentalität des Interpreten“.
Seine ersten Lieder sind „einfach so herausgesprudelt“, er hat sie gesungen, bevor er sie aufgeschrieben hatte. Er war Knecht und Käser und Senn und Bauer und ist seit 1960 Wildhüter. Er ist Mitbegründer des Jodlerklubs Giswil und Ehrenmitglied des Eidgenössischen Schwingerverbandes und wurde 1987 (wohl unter den misstrauischen Blicken des Jodelestablishments) mit dem Folklore Tell ausgezeichnet. Und trotz alldem oder gerade deshalb zeigt sich an ihm das Dilemma der Jodler. “ Ich habe mehr Strophen als Melodien“ , sagt er und zieht einen prallen Ordner hervor in dem seitenweise unvertonte Lieder sind.
Da gibt es ein Lied, das er aufgeschrieben hat, als ihn in der Badeanstalt die engumschlungenen Pärchen an die Frösche in der Paarungszeit erinnert haben. Ein Jodellied über die Liebe ohne Fänschterli und Rigeli. Da gibt es ein Lied das „Pfluder“ heisst, das er aus Ärger über die Düngung mit Klärschlamm schrieb. Aber er getraut sich nicht so recht. Er behauptet, ihm fallen die Melodien nicht mehr so leicht ein, weil er nie sicher sei, ob es etwas Ähnliches schon gebe. Man sollte ihm sagen, dass er sich darüber keine Sorgen machen soll. Die Identität der Schweizer Volksmusik wird je länger desto mehr aus der Authentizität ihrer Sprache und Texte bestehen. Den besten Beweis dafür liefert er selber:
Wenn Ruedi Rymann bei einem Auftritt „Der Bänz “ singt (ein Lied des vor zehn Jahren verstorbenen Schneidermeisters und Texterkomponisten Walter Hofer, einer andern Grösse des Jodelliedes) dann ändert er manchmal den Schluss. Er singt dann nicht: „E Stall voll bruni Chueli, es Bräntli un es Stueli, / es Liedli un e Jutzer dra, so faht der Bänz mit Mälche a. “ Sondern er singt: „… es Liedli un e Jutzer dra, der Bänz stellt d Mälchmaschine a“.
Und schon fliegen ihm die Herzen zu.
Erschienen 1993 im Kulturmagazin DU.