Die Vorsatzfrage

Es ist nicht ein­fach, Feh­ler zu ver­mei­den und da­bei un­an­ge­strengt zu wir­ken. Ge­ri fin­det, dass es ihm im gro­ßen gan­zen recht pas­sa­bel ge­lingt. Er ist ein gu­ter Be­ob­ach­ter der Sze­ne und ein fle­xi­bler Um­set­zer der Me­ga­trends in sein per­sön­li­ches Ver­hal­ten. Das heißt, er kann sich an­pas­sen, oh­ne dass es auf­ge­setzt wirkt. Und oh­ne wie ein Nach­ah­mer dazustehen.

Das ist über­haupt das Wich­tigs­te. Und das Schwie­rigs­te. Man muss den Trend vor­aus­ah­nen, wenn man nicht der letz­te sein will, der ihn auf­nimmt. Man muss Au­gen und Oh­ren of­fen hal­ten und die Zei­chen le­sen kön­nen. Im All­ge­mei­nen ist Ge­ri dar­in ein Meis­ter. Er ist zum Bei­spiel in die Ge­schich­te der Schamp Bar ein­ge­gan­gen als der Ers­te, der ei­nen La­dy-Di-Witz ris­kier­te. Bei drei Ge­le­gen­hei­ten hat­te er mit­be­kom­men, dass Ro­bi Mei­li un­ge­straft et­was in der Art von: „Das Thea­ter we­gen die­ser Kin­der­gärt­ne­rin“ fal­len ließ. Kurz dar­auf ging er ei­nen Schritt wei­ter und pla­zier­te den Witz. Er war nicht be­son­ders gut (et­was mit Ha­rald Juhn­ke, der jetzt als Chauf­feur für die Royals ar­bei­te), aber es ging hier, wie meis­tens in Trend­fra­gen, nicht um In­hal­te, son­dern um die Geste.

Die ein­zi­ge der Run­de, die sich scho­ckiert gab, war Su­si Schläf­li ge­we­sen. Aber das war ei­ne ein­kal­ku­lier­te und er­wünsch­te Re­ak­ti­on. Sie hat­te viel zur Hei­ter­keit der üb­ri­gen Zu­hö­rer­schaft mit beigetragen.

Aber Ge­ris Kunst, von den Mi­kro­trends in sei­nem Um­feld die Me­ga­trends ab­zu­le­sen, ver­sagt re­gel­mä­ßig  zum Jah­res­wech­sel. Aus­ge­rech­net zu dem Zeit­punkt, an dem die gro­ßen Wen­den, die grund­sätz­li­chen Neue­run­gen und die Ge­ne­ral­ab­rech­nun­gen mit dem Ver­gan­ge­nen statt­fin­den, emp­fängt er kei­ne Si­gna­le. Die Leu­te, auf die er bei der Trend­ana­ly­se an­ge­wie­sen ist, be­hal­ten ih­re Vor­sät­ze für sich. Nur ei­nen Vor­satz, von dem nie­mand et­was ahnt, kann man bre­chen, oh­ne dass es je­mand merkt. Das ist nicht wie frü­her, als man sich öf­fent­lich vor­neh­men konn­te, im nächs­ten Jahr nicht mehr zu rau­chen, und wenn man ihn nicht hielt, auf das Ver­ständ­nis al­ler zäh­len konn­te, die es auch nicht ge­schafft hat­ten. Oder als man oh­ne auf­zu­fal­len, rou­ti­ne­mä­ßig ab dem zwei­ten Neu­jahrs­tag bis min­des­tens Mit­te Ja­nu­ar kei­nen Trop­fen Al­ko­hol an­rühr­te, weil das al­le taten.

Heu­te läuft auch der Trend der Neu­jahrs­vor­sät­ze weg vom Grup­pen­dy­na­mi­schen, hin zum In­di­vi­dua­lis­ti­schen. Kei­ne An­zei­chen hat­ten im vor­letz­ten Jahr zum Bei­spiel dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Carl Schnell, un­ter an­de­rem auch das öko­lo­gi­sche Ge­wis­sen des Mu­cho Gus­to, für das neue Jahr der Ab­fall­tren­nung ab­schwö­ren wür­de. Ihn, den Pio­nier des ge­wachs­ten Wurst­pa­piers zur Frisch­hal­tung sei­nes schwar­zen Af­ghans, den Vor­rei­ter der In-House-Kom­pos­tie­rung und ers­ten Be­sit­zer ei­nes Bal­kon-Häcks­lers, aus­ge­rech­net ihn er­tapp­te Ge­ri da­bei, dass er im Tram de­mons­tra­tiv ei­ne Hand­voll Bat­te­rien, dar­un­ter so­gar sol­che von der mer­cu­ri­um–  und cad­mi­um­hal­ti­gen Sor­te, im Pa­pier­korb ver­schwin­den ließ. „Ich ha­be mir vor­ge­nom­men, mir nicht mehr die gan­ze Ver­ant­wor­tung für den Zu­stand des Pla­ne­ten auf­hal­sen zu las­sen“, er­klär­te er Ge­ri, der sein Ent­set­zen über den Fre­vel nicht ver­ber­gen konn­te. Da er an die­sem Tag kei­ne Bat­te­rien auf sich trug, konn­te er die Schar­te nur da­durch halb­wegs aus­wet­zen, dass er an­schlie­ßend in der Schamp Bar ein Do­sen­bier bestellte.

Im letz­ten De­zem­ber aber wa­ren die Fin­ger­zei­ge un­ver­kenn­bar: Come­back der Ja­nu­ar-Ent­schla­ckung! Fred­dy Gut, der aus mo­di­schen Grün­den ein sehr dis­zi­pli­nier­ter Es­ser ist, wür­de sonst in den Vor­weih­nachts­ta­gen nicht fres­sen und sau­fen wie nur zu Zei­ten, als man das Neue Jahr mit der Zi­tro­nen­kur ein­lei­te­te. Und Al­fred Hu­bers Trink­spruch „da­mit wir dann auch et­was zum Ent­gif­ten ha­ben“ zer­treu­ten Ge­ris letz­te Zweifel. 

Aber am vier­ten Ja­nu­ar ist er der ein­zi­ge, der mit ei­ner Ther­mos­fla­sche voll Zi­tro­nen­saft mit Mar­ple-Si­rup und Ca­yenne­pfef­fer im Mu­cho Gus­to auf­taucht. Die an­dern be­kom­men ein Schäl­chen brau­nen Reis ser­viert, das sie an­däch­tig, sehr be­wusst und, da­mit die Por­ti­on län­ger vor­hält, mit Stäb­chen es­sen. „Die Ma­yo-Brown-Ri­ce-Diet“, lässt sich Fred­dy Gut her­ab, ihm zu er­klä­ren. „Zum Früh­stück un­ge­würz­ter, ge­dämpf­ter brau­ner Reis, zum Mit­tag­essen un­ge­würz­ter, ge­dämpf­ter brau­ner Reis, zum Abend­essen un­ge­würz­ter, ge­dämpf­ter brau­ner Reis. Zehn Ta­ge lang. Nicht so aso­zi­al wie die Zi­tro­nen­kur. Und vor al­lem: nicht so ungesund.“

Als Ge­ri – was bleibt ihm an­de­res üb­rig? – den Plas­tik­be­cher von sei­ner ge­blüm­ten Ther­mos­fla­sche schraubt, fügt Su­si Schläf­li noch hin­zu: „Und sieht nicht so doof aus.“

Ge­ri nimmt sich vor, sich nie mehr et­was vorzunehmen.

Ja­nu­ar 1998

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