Geri und das geistige Eigentum
Entspannt sitzt Geri im Wohnbereich der Mini-Loft vor einem eiskalten Sherry, seinem Lieblings-Einstimmungsgetränk. Es lockert diskret und elegant die Zunge. Wie etwas Homöopathisches, eine Art Notfalltropfen für Nichtabstinente.
Er ist fertig gestylt, sogar zweimal, wie so oft. Deswegen beginnt er ja immer früh mit dem Styling, damit ihm genug Zeit bleibt für das Umstyling. Geri sagt immer: Der Mensch darf Fehler machen, er muss nur darauf achten, dass er genug Zeit hat, sie zu korrigieren.
Und Zeit braucht es. Styling-Fehler sind ja selten klar definiert. Meistens ist es reine Gefühlssache, ob ein V- oder ein O‑Ausschnitt zum T‑Shirt falsch oder richtig ist. Immer wieder befindet er sich in der Situation, dass er sich im V irgendwie nicht wohlfühlt, zum O wechselt, sich auch darin nicht wohlfühlt, zum Hemd wechselt, sich auch darin irgendwie daneben fühlt, sich auf V zurückstylt, sich wohlfühlt, das Haus verlässt, kurz vor Erreichen des Ziels – meistens ist es das Numberless – wieder nicht wohlfühlt, zurückgeht, sich umstylt und – trotzdem nicht zu spät kommt. Time Management, eben.
Wie Geri so entspannt an seinem Sherry nippt, trampelt plötzlich sein Mitbewohner Hanspeter herein und KNALLT etwas so heftig auf das Clubtischchen, dass Geri erschrickt und etwas von seinem Einstimmungsdrink verschüttet.
«Da!», jubelt Hanspeter.
«Was ist das?»
«Der Suchi!»
Der Suchi ist Hanspeters geniales Projekt, er hat Geri vor geraumer Zeit überredet, ein Startup dafür zu gründen. Für dessen Finanzierung hatte Geri seine Eltern damals davon überzeugt, sich mit einem Erbvorbezug von 50’000 am Projekt zu beteiligen.
Es ist ein elektronischer Sticker, den man an seine Brille, seinen Geldbeutel, seinen Personalausweis und so weiter klebt, damit man den Gegenstand mit dem Handy suchen kann, wenn man ihn verlegt hat.
Das Projekt ist etwas in den Hintergrund gerückt, weil es jedes Mal zu einer gewissen Missstimmung kommt, wenn Geri sich nach dessen Entwicklungsstand erkundigt.
Hanspeter geht zum Kühlschrank und kommt mit einem Glas Sherry zurück, dessen Größe dem Einstimmungsdrink die ganze Eleganz raubt. Er nimmt einen gewaltigen Schluck, angelt sich den Flyer, den er auf den Tisch geknallt hat, und fuchtelt damit herum: «Apple hat uns die Suchi-Idee geklaut!»
Geri studiert das Dokument.
«Sie nennen das Ding AirTag, aber im Prinzip ist es das Gleiche. Man befestigte es an Gegenständen und kann diese dann mit dem iPhone suchen.»
«Und woher sollte Apple die Idee haben?»
«Im Mai 2019 hat der Suter darüber geschrieben. Zwei Jahre reichen locker für die Entwicklung des Projekts.»
«Uns haben sie nicht gereicht», wagt Geri zu bemerken.
«Unseres ist ja auch NANO! Das kannst Du so an den Brillenbügel kleben, dass man es nicht sieht. Das ist technologisch unvergleichlich viel anspruchsvoller!»
«Prost!» Hanspeter stößt mit seinem Riesenglas mit Geris zierlichem an.
«Und warum freust du dich so darüber?»
«Warum? Wir sind reich!»
Hanspeter geht zum Kühlschrank, holt den Sherry und schenkt nach.
«Reich?», wundert sich Geri. «Wieso?»
Hanspeter wird feierlich. «Wir werden Apple verklagen. Geistiges Eigentum. Da kennen die Amis nichts.»
«Wir zwei gegen Apple?»
«David gegen Goliath. Da stehen die Amis drauf.»
«Du willst in den Vereinigten Staaten gegen Apple klagen? Gegen die zweitwertvollste Marke der Welt?»
Hanspeter winkt lächelnd ab. «Keine Angst. Wir werden uns außergerichtlich einigen.»
Geri kippt nervös seinen Sherry runter. «Und wie willst du die Klage bezahlen, wenn ich fragen darf?»
Hanspeter grinst triumphierend. «Apple wird sie bezahlen.»
Geri versucht, es ironisch klingen zu lassen: «Ach so.»
«Wir engagieren den schärfsten Hund von Geistigem-Eigentums-Anwalt und bieten ihm fifty-fifty an. Bei zwanzig Millionen bleiben immer noch zehn für uns.»
«Zwanzig Millionen?»
«Das sind Peanuts für Apple. Vor allem, um sich loszukaufen vom Beweis, dass sie skrupellos eine Produktidee gestohlen haben.»
«Beweis?»
«Die Idee wurde nachweislich im Mai/Juni 2019 auf der copyrightgeschützten Website martin-suter.com veröffentlicht, beinahe zwei Jahre vor Apples Lancierung von AirTag.»
Vielleicht ist es Hanspeters Überzeugungskraft, vielleicht die hübsche Summe, vielleicht die Wirkung der Einstimmungsdrinks oder vielleicht die Kombination von all dem, jedenfalls gewöhnt sich Geri im Laufe des Gesprächs an die Idee und ertappt sich dabei, wie seine Gedanken zu möglichen Verwendungszwecken der Abfindung abschweifen.
Als sie sich auf den Weg zum Numberless machen, sagt Geri vorsichtshalber: «Kein Wort davon zu den andern, okay?»
Hanspeter gibt keine Antwort.
«Okay?», wiederholt Geri.
«Okay was?», fragt Hanspeter. Er hat den Gesichtsausdruck, den Geri von anderen Gelegenheiten her kennt. Nur fällt ihm momentan nicht ein, von welchen.
Es wird ihm erst klar, als sie das Numberless betreten und Freddy Gut sagt: «Ich nehme an, heute geht alles auf euch.»
Und von Robi Meilis Brillenbügel etwas Rundes mit einem angebissenen Apfel baumelt.
