Die Handyfrage
Geri Weibel hat ein paar Geheimnisse. Seit neustem zählt dazu auch ein Handy. Eine nicht besonders gut durchdachte Anschaffung, wenn auch nicht gerade ein Spontankauf – mit Spontaneität hat Geri bisher keine guten Erfahrungen gemacht.
Die Idee dazu war Geri an einem Abend gekommen, an dem er in der SchampBar hängengeblieben war. Carl Schnell hatte die Lewinsky-Affäre mit der These erklären wollen, dass es bei Nationen gleich wie bei Menschen ein Alter gebe, in dem sie in die Pubertät kommen. Damit hat er den harten Kern der Stammgäste bis weit nach Mitternacht festgehalten. Als es Charly endlich gelang, die Bar zu schliessen, fuhren keine Trams mehr.
Sie gingen, immer noch diskutierend, zum Taxistand. Geri überliess den wartenden Wagen den anderen, die in der gleichen Richtung wohnten, und blieb allein am leeren Taxistand zurück.
Noch bevor die Rücklichter des Taxis verglüht waren, setzte ein strömender Regen ein. Geri stellte sich fluchend in den nächsten Hauseingang. Weit und breit kein Taxi in Sicht. Nur ein jüngerer Mann, der sich in einen anderen Hauseingang rettete. Beide warteten. Kein Taxi in Sicht. Der junge Mann im anderen Hauseingang nahm ein Handy aus der Brusttasche und telefonierte. Kurz darauf kam ein Taxi. Geri rannte hin und öffnete die Tür. Der junge Mann öffnete die andere. Der Taxifahrer fragte: „Wer von Ihnen hat angerufen?“
Am nächsten Tag begann Geri, den Handy-Markt zu studieren. Am übernächsten wartete er bereits in einer Schlange in einem swisscom shop. Als er endlich an die Reihe kam, gab es das Modell, für das er sich entschieden hatte, nicht mehr, und das Ausweichmodell nicht mehr in seiner Farbe.
Kaum hatte er den Shop mit dem falschen Modell in der falschen Farbe verlassen, kamen ihm Zweifel, ob er mit der Erklärung strömender Regen, letztes Tram weg und weit und breit kein Taxi durchkommen würde. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr wuchs seine Überzeugung, dass nicht.
Geris Szene hat die Entwicklung des mobilen Telefons aus grosser ironischer Distanz beobachtet. Das Autotelefon als GT-Streifen für Besserverdienende, dann das Natel als Beweis für permanente Unentbehrlichkeit, dann das Handy als selbstverständliches Accessoire des mobilen, urbanen Menschen.
Es gibt kein Indiz dafür, dass die Akzeptanz der mobilen Telefonie im Fisch&Vogel und in der SchampBar gestiegen wäre. (Und die Tatsache, dass er sich auch nicht an einen Beweis des Gegenteils erinnert, will er nicht überbewerten.) Er beschliesst also, auf den passiven Gebrauch des Handys bis auf weiteres zu verzichten. Das heisst, er behält die Nummer geheim und beschränkt den Gebrauch auf die Situation strömender Regen, letztes Tram weg und weit und breit kein Taxi.
Das hätte er auch ohne weiteres durchgehalten, wenn Lilo nicht gewesen wäre. Lilo ist ein anderes von Geris Geheimnissen. Sie hilft halbtags im Empfang der Firma aus, in der er arbeitet. Die Art von Mädchen, für die er sich vorstellen könnte, die Welt zu wechseln, weil sie nicht in seine passt.
Eines Tages winkt sie Geri beim Verlassen der Firma zu sich und fragt, ob er mit ihr essen gehe. Im nahen vegetarischen Restaurant gesteht sie ihm ein Verhältnis mit einem um einige Jahre älteren verheirateten Mann. Es ist nicht das erste Mal, dass Frauen sich Geri anvertrauen, als ob sie von ihm nichts zu befürchten hätten. Aber so hinreissend wie Lilo war bisher noch keine.
Beim ersten Essen spielt er seine Rolle als Neutrum fehlerlos. Aber schon beim zweiten Mal lässt er durchblicken, dass auch er auch nur ein Mann sei. Beim dritten Mal gibt er ihr zu verstehen, dass er für sie da sei, falls sie dem Kerl eine Lektion erteilen wolle.
Wenn Lilo darauf nicht mit einem verheissungsvollen „wer weiss“ geantwortet hätte, hätte er seine Handy-Nummer auch weiterhin für sich behalten.
An einem Freitagabend passiert das Malheur. Geri steht am Tresen in der SchampBar, als es in seiner Brusttasche zu piepsen beginnt. Wenn er nicht ausgerechnet neben Robi Meili gestanden hätte, hätte er vielleicht geantwortet. Aber so lässt er es piepsen.
„Ist das dein Handy, Geri?“, fragt Robi Meili.
„Ich und ein Handy“, schnaubt Geri verächtlich.
„Dann muss es meins sein.“ Meili, greift in die Hosentasche. „Man fühlt sich so nackt ohne.“
Der Mann, der in der SchampBar die Trends setzt, hält in der Hand das gleiche Modell, wie das, das jetzt in Geris Tasche zu piepsen aufgehört hat. Sogar in der gleichen Farbe.