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Dies ist ein rie­si­ges Ar­chiv von fast al­lem, was Mar­tin Su­ter ge­macht hat, ge­ra­de macht und noch ma­chen will. Sie ha­ben zu bei­na­he al­lem da­von un­be­schränk­ten Zu­gang. Und wenn Sie Mem­ber wer­den, zu noch et­was mehr.

Geris Frühling

Ge­ri ist meist so da­mit be­schäf­tigt, sei­ne Mit­men­schen zu be­ob­ach­ten, dass er sich manch­mal wo­chen­lang ganz aus den Au­gen ver­liert. Nicht äus­ser­lich, na­tür­lich. Er be­trach­tet sich mehr­mals täg­lich im Spie­gel und in je­dem Schau­fens­ter, an dem er vor­bei­kommt. Aber er prüft sein Spie­gel­bild mit der glei­chen Di­stan­ziert­heit, wie er die Er­schei­nung der an­de­ren ta­xiert. Nur sel­ten ge­lingt es ihm, sein Inne­res mit sei­nem Äus­se­ren in Ver­bin­dung zu brin­gen. Ge­ri sieht sich, aber er spürt sich nicht.

In die­sem Zu­stand in­ne­rer Be­täu­bung geht er an ei­nem Sams­tag­nach­mit­tag von sei­ner Woh­nung zum Club81. Ge­ri trägt zum ers­ten Mal sei­nen neu­en, leich­ten, schie­fer­grau­en Lum­ber, des­sen Schnitt und Ma­te­ri­al ihn an die Frei­zeit­ja­cke sei­nes Geographieleh­rers er­in­nern. Es ist ein mil­der Tag im Mai. Auf ei­nem Bal­kon im ers­ten Stock ei­ner gel­ben Miets­ka­ser­ne füllt ei­ne al­te Frau neue Er­de in verwit­terte Blu­men­kis­ten. Zwi­schen frisch­bepflanzten Ver­kehrs­be­ru­hi­gern war­ten ge­lang­weil­te Kin­der, wäh­rend ih­re El­tern an ei­nem gro­ben Holz­tisch bei ein paar Fla­schen Bier die Spielstra­ssenaison er­öff­nen. Im Ligu­ster ei­nes ver­wahr­los­ten Vor­gärt­chens schimp­fen hun­dert un­sicht­ba­re Spat­zen. Ge­ri re­gis­triert die Idyl­le un­berührt wie ein Tou­rist, der mit sei­ner In­stant­ka­me­ra Er­in­ne­run­gen für spä­ter sammelt. 

Im Club81 steht die Ein­gangs­tür weit of­fen. Ge­ri ist der ers­te Gast. Er setzt sich in die Stamm-Sitz­grup­pe und war­tet. Aus dem Raum hin­ter dem Buf­fet hört man Re­to mit Ha­ras­sen schep­pern. Ai­ra ist nicht zu sehen. 

Im Spie­gel über dem Ein­gang lässt sich fast das gan­ze Lo­kal überblic­ken. Die Pols­ter­grup­pen, die Club­tischchen, die Gum­mi­bäu­me, die ver­chromten Steh­lam­pen. Ge­ri muss zwei­mal hin­schau­en, bis er den Mann im grau­en Lum­ber sieht, der sich auf ei­nem der Ses­sel der Stamm-Sitz­grup­pe klein macht. Er kor­ri­giert die Hal­tung des Man­nes, rich­tet ihn auf, legt sei­nen rech­ten Arm auf die Rück­lehne und schlägt sei­ne Bei­ne übereinander.

Wäh­rend er das Re­sul­tat sei­ner Kor­rekturen prüft, kommt von hin­ten ei­ne jun­ge Frau ins Bild. Sie trägt kur­zes schwar­zes Haar, en­ge, auf die Hüf­ten ge­schnit­te­ne Schlag­ho­sen und ei­ne kur­ze Blu­se. Ge­ri be­ob­ach­tet, wie sie sich dem Mann im Ses­sel nä­hert. Erst als sie ihn an der Schul­ter be­rührt, wird der Ge­ri, den er sieht, zum Ge­ri, der er ist.

„Ent­schul­di­ge, so früh ha­be ich heu­te nie­man­den er­war­tet“, lä­chelt Ai­ra. Und mit ei­nem Blick zur of­fe­nen Tür fügt sie hin­zu: „An ei­nem Tag wie heute.“

So­fort be­fällt Ge­ri ein schlech­tes Ge­wis­sen, dass er an ei­nem Tag wie heu­te nichts zu tun weiss, als schon um die­se Zeit in der Wirt­schaft zu hocken. 

„Was trinkt man an ei­nem Tag wie heu­te?“ fragt Ge­ri non­cha­lant. Ai­ra emp­fiehlt ihm ein Biè­re Grenadine. 

Als Ge­ri Wei­bel an die­sem Spätnach­mittag im Mai hin­ter sei­nem ro­sa­ro­ten Bier sitzt und aus dem dämm­ri­gen Lo­kal auf das son­nen­be­schie­ne­ne Trot­toir blickt, spürt er sich zum ers­ten Mal seit lan­gem wie­der. Und aus­ser sich selbst noch et­was, von dem er nicht auf An­hieb sa­gen kann, was es ist. Nur, dass er fast si­cher ist, dass es mit Ai­ra zu tun hat. Denn je­desmal, wenn sich ih­re Sil­hou­et­te im Ge­gen­licht der Tür ab­zeich­net, wird es stär­ker. Und so­bald sie sein Ge­sichtsfeld ver­lässt, flaut es ab. Es sei denn, er folgt ihr mit den Au­gen. Dann bleibt es gleich. Und nimmt jetzt, wo sie ihn da­bei er­tappt und lä­chelt, so­gar ab­rupt zu. 

Wahr­schein­lich, denkt Ge­ri, be­zieht sich das Ge­fühl nicht auf Ai­ra per­sönlich, son­dern stell­ver­tre­tend auf al­le Frau­en die­ses lau­en Früh­lingstags. Aber als zwei Gre­na­di­nes und ei­ne Stun­de spä­ter Su­si Schläf­li in et­was Hoch­som­mer­li­chen auf­tritt, muss er sich kor­ri­gie­ren. Das Ge­fühl ist spezifisch.

Ai­ra! Aus­ge­rech­net! Die Frau ist ta­bu. So­wohl aus Rück­sicht auf Ro­bi Mei­li, als auch auf Fred­dy Gut, als auch auf Carl Schnell. Nicht, dass sie mit ei­nem der drei et­was hät­te, viel schlim­mer: Sie hat al­le drei ab­blitzen las­sen. Ai­ra ist dop­pelt ta­bu: We­gen de­ren Spott, falls sie ihn ab­wim­melt. Und we­gen de­ren Ra­che, falls nicht.

Es wird ein lau­ter Abend im Club81. Al­le wol­len die­sen Tag bis zur letz­ten Se­kun­de aus­kos­ten. Nur Ge­ri ist stil­ler als sonst. Er hat nach Ein­treffen der Cli­que die Gre­na­di­ne im Bier weg­ge­las­sen und ar­bei­tet seit­her sys­te­ma­tisch an der An­äs­the­sie sei­nes Frühlingsgefühls.

Da­bei muss ihm ent­gan­gen sein, dass er als letz­ter Gast üb­rig­ge­blie­ben ist. Als er be­zah­len will, sagt Ai­ra: „Lass uns noch ei­ne Gre­na­di­ne trin­ken. An ei­nem Tag wie heute.“

Ge­ri holt tief Luft und antwortet: 

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