Eine bedauerliche déformation trop professionelle

Annelise Behringer ist zwar erst zweiunddreißig, aber dennoch alte Schule. Sie ist die linke und die rechte Hand von Imbach, sein Gedächtnis, sein Alibi und sein undurchdringliches Vorzimmer.
Frau Behringer ist gepflegt, pünktlich, pflichtbewusst, höflich, diszipliniert und kompetent, kurz: Frau Behringer ist alles, was ihr Chef Imbach nicht ist. Und in dem Masse, wie er ihre Qualitäten zu schätzen weiß, bewundert sie an ihm deren Fehlen. Auf dieser Basis ist eine langjährige, glückliche, wenn auch etwas einseitige Arbeitsbeziehung entstanden.
Sie beginnt ihren Arbeitstag pünktlich um acht, denn ab dann ist Imbach theoretisch erreichbar. Praktisch trifft er zwar selten vor neun ein, aber für die Schließung der Lücken zwischen Theorie und Praxis ist Annelise Behringer zuständig.
”Oh, da haben Sie Pech, er war eine halbe Stunde hier und ist bereits an seinem ersten Termin”, sagt sie dem ersten Anrufer um fünf nach acht.
”Eben habe ich ihm ein Gespräch hereingegeben. Ich fürchte, es klingt nach länger. Wollen Sie warten?”
Wenn Imbach praktisch eintrifft, hat er theoretisch schon zehn Gespräche geführt und ein halbes Dutzend Termine wahrgenommen. Er setzt sich mit seinem Kaffee und seinen Zeitungen ans Pult und bringt sich à jour.
”Herr Imbach hat Ihren Anruf früher erwartet, jetzt hat die Sitzung angefangen”, ist einer ihrer Standards in dieser Phase. Und etwas später: ”Zwischen zehn und elf ist eine schlechte Zeit, da rufen alle Engländer an.”
Annelise Behringer hat für Imbach schon so oft gelogen, dass ihr die ehrlichen Antworten oft gar nicht mehr einfallen. ”Doch”, kann sie dem Absender eines unbeantworteten Briefes aus dem Stehgreif sagen, ”ich habe das Schreiben selbst getippt und aufgegeben. Das muss an ihrer internen Post liegen.”
Wenn Imbach einen Termin vergisst, schwört sie: ”Neun Uhr, nicht elf Uhr, ist in seiner Agenda eingetragen. Und das stimmt mit meiner überein. Er hat anderthalb Stunden gewartet.”
Sogar als der nette Herr Mahler (fünfunddreißig, eins neunzig, sportlich, charmant, unschuldig geschieden) zum zweiten Mal vorspricht, um mit Imbach sein fünf Wochen altes Exposé, das dieser noch nicht einmal aus dem Umschlag genommen hat, zu besprechen, sagt sie: ”Herr Imbach hat aus dem Auto angerufen. Er sitzt im Stau und muss Ihren Termin leider verschieben.”
Sie vereinbaren einen neuen Termin für nächste Woche. Herr Mahler hat schöne Hände, einen hübschen Haaransatz und ein unaufdringlich herbes Cologne.
Wie sie da so Kopf an Kopf über die Agenden gebeugt sind, spürt Frau Behringer plötzlich Herr Mahlers Nähe auf andere als rein geschäftliche Weise. Es muss ihm gleich gegangen sein, denn sie schauen in der gleichen Sekunde auf. Ihre Blicke treffen sich und er stammelt: ”Hätten Sie diese Woche irgendeinmal Zeit mit mir zu essen?”
”Diese Woche sieht es schlecht aus”, hört sich Annelise Behringer sagen, ”aber vielleicht können wir übernächste Woche etwas schieben.”29.3.01