Der Mensch im Mittelpunkt

Wer sagt es denn: Der Trend geht wieder Richtung Mensch. Haben die es auch schon gemerkt. Hat aber gedauert. Nach Jahren der Profitmaximierung, Kostenreduzierung, Synergetisierung, Restrukturierung, Shareholder Valuisierung, Liberalisierung stoßen sie plötzlich auf den Menschen als prioritären Unternehmenswert.
Mosimann sitzt in der Lobby des Majestic und arbeitet Management-Fachliteratur auf. Ab und zu muss er das, sonst ist er weg vom Fenster.
Bei den meisten Neuerscheinungen genügt es zwar, die minutes zu lesen, um mitreden zu können. Aber es ist auch immer wieder mal ganz wirkungsvoll, mit einem Zitat aufzutrumpfen, das nicht in den Kurzzusammenfassungen steht. Deshalb deckt er sich einmal im Monat mit einem aktuellen Querschnitt ein und haut für ein paar Tage ab. No calls.
Diesmal hat er sich für das Majestic entschieden. Nicht so penetrant business. Davon hat er auf Geschäftsreisen genug. Wirklich gut ausgebildetes Personal. Diskret und trotzdem aufmerksam. Nette Suiten. Nichts Protziges, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Umkleidezimmer, Bäder. Aber die Details stimmen. Das ist wichtig in einer Klausur. Sonst ist die Konzentration futsch. Da darf das Cheminée keine Attrappe sein. Wenn er es als effizienzfördernd erlebt, vor dem Kaminfeuer zu arbeiten, dann braucht es ein Kamin, das funkioniert und jemanden, der es anfeuern kann. Nur als Beispiel.
Dass er jetzt in der Lobby arbeitet, hat wirklich nichts mit der Qualität der Suite zu tun. Es hat, hübscher Zufall, genau mit dem Thema des Buches zu tun, das er im Moment mit einem leuchtgrünen Marker durchhighlighted: Der Mensch.
Der Mensch, nicht als human resource, nicht als Kostenfaktor, nicht als Produktionsrisiko, nicht als Einsparpotential. Der Mensch als Mensch. Wie er die Lobby betritt, langbeinig und mit schlanken Fesseln, unternehmungslustig oder gelangweilt, der Mensch, wie er an Mosimanns Sessel vorbeistöckelt oder –schlendert oder –wiegt und die drei Tritte zur Bar hochsteigt und ihn – vielleicht – mit einem Blick streift, bevor die Tür aufgleitet und der Mensch in der Bar verschwindet.
Jetzt endlich, nach Jahren der entmenschlichten Gewinnorientierung, beginnt die Managementlehre den Menschen als Unternehmenszweck zu entdecken. Die Erhöhung des psychischen und physischen Wohlbefindens wird endlich zum Maßstab des wirtschaftlichen Erfolgs. Und materielle und finanzielle Wertschöpfung gelten endlich als nichts anderes als deren ganz natürliches Nebenprodukt.
Hat er immer gesagt. Aber ihm glaubt man es nicht. Von ihm wird erwartet, dass er vierundzwanzig Stunden am Tag für den Laden zur Verfügung steht. Ihn benutzt man als den entmenschlichten Vollstrecker einer Meute geldgieriger Aktionäre.
Mosimann blickt sich in der Lobby um. Ein ständiges Kommen und Gehen unbeschwerter schöner Menschen besten psychischen und physischen Wohlbefindens. Und mitten unter ihnen Mosimann, das arme Schwein, am Fachliteratur büffeln.
Spontan geht er in die Bar, bestellt einen Whisky und beschliesst, den Nachmittag freizunehmen. Unter Menschen.
19.4.01