Die Weihnachtsfrage

Ein 20 Jah­re al­ter Ge­ri Klassiker

Was Ge­ri am De­zem­ber stört, sind die an­dern. Er selbst hät­te kein Pro­blem da­mit. Im Ge­gen­teil: Er liebt es, wenn es weih­näch­telt. Die Heils­ar­mee, die Ma­ro­nistän­de, die glit­zern­den Schau­fens­ter und die­se kol­lek­ti­ve Tor­schuß­pa­nik ge­fal­len ihm tief im In­ners­ten. Aber an­mer­ken läßt er sich nichts. Wie könn­te er, als Stamm­gast ei­ner Bar, in der im De­zem­ber und Ja­nu­ar kein Christ­baum steht, da­für den gan­zen Rest des Jahres?

Den Christ­baum hat­te Weih­nach­ten vor fünf Jah­ren Pa­me­la zu­rück­ge­las­sen. Pam stammt aus L. A. und war ei­nes Ta­ges in Be­glei­tung ei­nes männ­li­chen Fo­to­mo­dells in der Schamp­Bar auf­ge­taucht und von die­sem noch am sel­ben Abend we­gen ei­nes an­de­ren männ­li­chen Fo­to­mo­dells sit­zen­ge­las­sen wor­den. Das hat­te die Stamm­gäs­te der­art em­pört, daß sie Char­ly, den Bar­man, ge­nö­tigt hat­ten, die auf­ge­lös­te, mit­tel­lo­se und hüb­sche Pam vom Fleck weg zu en­ga­gie­ren. Schon nach we­ni­gen Ta­gen nerv­te Pam die Gäs­te mit ih­rer künst­li­chen Herz­lich­keit und ih­rem »Hi ho­ney, how are we to­day?«. Aber Char­ly ver­lieb­te sich in sie und ließ nichts auf sie kom­men, ob­wohl sie ihn, wie die Bar ver­mu­te­te, nie er­hör­te und  ih­rer­seits nach kur­zer Zeit we­gen ei­nes In­dus­trie-Fo­to­gra­fen (das »In­dus­trie« hat­te er ihr ver­heim­licht) sit­zen­ließ. Char­ly war so ge­trof­fen, dass er das künst­li­che Christ­bäum­chen mit den blin­ken­den bun­ten Kerz­chen, das Pam un­ge­fragt, aber un­wi­der­spro­chen ne­ben der Kas­se auf­ge­baut hat­te, un­be­rührt stehenließ.

Die Stamm­gäs­te spür­ten, dass das Bäum­chen Char­ly als Pa­me­la-Al­tar bei sei­ner Trau­er­ar­beit half, und lie­ßen es pie­tät­voll un­er­wähnt. Erst als es nach den Som­mer­fe­ri­en im­mer noch trau­rig vor sich hin blink­te, wag­te Ro­bi Mei­li die Be­mer­kung: »Aber über die Fest­ta­ge räumst du es ab?« Seit­her steht das Bäum­chen von An­fang Fe­bru­ar bis En­de No­vem­ber non­kon­for­mis­tisch ne­ben der Kas­se und wird über die Fest­ta­ge weg­ge­räumt. »Aus Pro­test ge­gen den Weih­nachts­kon­sum­ter­ror«, wie es Carl Schnell nennt. Ein schwa­cher Pro­test, denn ob sich die Weih­nachts­zeit durch ein Bäum­chen an­kün­digt oder durch des­sen plötz­li­ches Feh­len, kommt aufs glei­che hin­aus, fin­det Ge­ri Wei­bel. Aber er ist nicht da­für ge­schaf­fen, ge­gen den Strom zu schwim­men. So igno­riert auch er an die­sem ers­ten De­zem­ber wie­der die lee­re Stel­le ne­ben der Kas­se und be­tei­ligt sich an den Ge­sprä­chen, die sich um al­les dre­hen au­ßer um das, was der De­zem­ber bringt. Weih­nach­ten steht vor der Tür, und was die Schamp­Bar be­trifft, bleibt es auch dort stehen.

Die Bar ist wäh­rend der ers­ten De­zem­ber­wo­chen die ein­zi­ge weih­nachts­freie Zo­ne der Stadt. In ihr drän­gen sich die, die so tun, als wä­re nichts, und die doch ein we­nig lau­ter sind als sonst. Selbst die Abend­ver­käu­fe hin­ter­las­sen kei­ne Lü­cken am dicht be­setz­ten Tre­sen. Und die Ein­kaufs­ta­schen an den Ha­ken über der Fuß­stan­ge ent­hal­ten Grund­nah­rungs­mit­tel, kei­ne Geschenkpäckli.

Mo­nats­mit­te wird es Zeit, dass je­mand den Bann da­durch bricht, dass er ihn beim Na­men nennt. Wie im­mer ist das Ro­bi Mei­li, der Mann mit dem Ge­fühl für das Rich­ti­ge zur rech­ten Zeit. »Da drau­ßen sind wie­der ein­mal al­le am Durch­dre­hen«, stößt er ver­ächt­lich aus, als er die Schamp­Bar be­tritt wie ein Po­lar­for­scher die ret­ten­de For­schungs­sta­ti­on. Er­leich­tert neh­men die an­dern den Fa­den auf. »Wie wenn es ab mor­gen ver­bo­ten wä­re, häss­li­che Kra­wat­ten und päd­ago­gisch wert­vol­le Spiel­sa­chen zu kau­fen«, sagt Fred­dy Gut. »Ich dach­te, die Leu­te hät­ten kein Geld«, wun­dert sich Su­si Schläf­li. »Lie­ber Schul­den als kei­ne Ge­schen­ke«, schnaubt Carl Schnell. Der Weih­nachts­rum­mel wird ein to­le­rier­tes The­ma in der Schamp­Bar und ver­liert da­durch et­was von sei­nem Schrecken.

Aber in der letz­ten Wo­che vor dem »ei­li­gen Abend«, wie Ro­bi Mei­li sagt, lich­ten sich die Rei­hen und be­gin­nen die Bli­cke de­rer, die aus­har­ren, zu fla­ckern. Die ers­te, die ein­bricht, ist Su­si Schläf­li. »Kei­ne Ge­schen­ke an Er­wach­se­ne, ha­be ich ge­sagt«, ver­tei­digt sie sich, als Al­fred »Iz­mir« Hu­ber sie auf den Gold­bän­del an­spricht, der aus ih­rer gro­ßen Hand­ta­sche blitzt. Und Fred­dy Guts Ein­kaufs­ta­sche ent­hält an­geb­lich nur des­halb ein Ge­schenk, weil er in ei­nem Mo­ment der Ab­ge­lenkt­heit die Ver­käu­fe­rin nicht ge­hin­dert hat, sei­nen neu­en Wein­füh­rer ge­schenk­zu­ver­pa­cken. Ge­ri gibt sich kei­ne Blö­ße. Dis­kret tä­tigt er am 23. De­zem­ber sei­ne Pa­nik­ein­käu­fe. Und er wür­de auch wei­ter­hin als im­mun ge­gen das Weih­nachts­fie­ber gel­ten, wä­re er am Pack­tisch nicht Carl Schnell be­geg­net, der sich eben ein elek­tri­sches Brot­mes­ser ge­schenk­ver­pa­cken läßt.

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