Die Hanspeter-Krise
Die „megageile Miniloft“, acht Gehminuten vom Numberless, geht Geri nicht mehr aus dem Kopf. Von den acht Tagen Bedenkfrist, die ihm die Hausverwaltung gewährt hat, sind schon vier verstrichen, und noch immer konnte er sich nicht dazu durchringen, diese große Veränderung in seinem Leben zu wagen. In Veränderungen ist Geri nicht besonders stark. Wenn es nach ihm ginge, hätte er in seinem Leben wahrscheinlich kaum je etwas verändert. Aber in Geris Leben geht es selten nach ihm. In Geris Leben geht es nach… Sie wissen schon.
So gesehen müsste er den Schritt sofort ausführen. In Steiberg Dorf als Airbnb-Mieter in einer Zweizimmerwohnung in einem gelben Block aus den Achtzigerjahren bei einem übergewichtigen Heavy-Metall-Fan zu hausen ist eine typische Situation, die nach Veränderung schreit. Genauer gesagt: die das Lifestyle-Verständnis von Susi Schläfli, Robi Meili, Freddy Gut, Carl Schnell, Peter und Rita und Charly nach Veränderung schreien lässt.
Aber was Geri zögern lässt, ist sein Drang, es immer allen recht zu machen. Also: allen in seinem Umfeld. Und zu diesem gehört nun leider inzwischen auch Hanspeter. Und von Geri die Kündigung zu erhalten, wäre für ihn ein harter Schlag. Beim durch die Coronasituation bedingten Überangebot an Wohnungen wäre es nach Geris Einschätzung aussichtslos, einen Airbnb-Mieter zu finden, der bereit wäre, in einer Agglo-Zweizimmerwohnung mit einem schlampigen Langzeitarbeitslosen Bad, Küche und Wohnzimmer zu teilen. Und von der Sozialhilfe allein könnte Hanspeter nicht leben.
Kurz vor Ablauf der Bedenkfrist erhält Geri einen Anruf von Stretto, dem Barbier von Freddy Gut. Er habe von der Hausverwaltung mit der Miniloft erfahren, dass Geri sich noch immer nicht entschieden hätte, und es gebe mega viele andere Interessenten. Die Rückfrage lässt Geri vermuten, dass es Stretto um eine Vermittlerprovision geht, denn er beschreibt die Vorzüge des Objekts noch einmal sehr ausführlich. Geri, der es auch Stretto recht machen will, beteuert, er sei kurz vor der Entscheidung. Und fügt zum Schluss noch hastig hinzu: „Höchstwahrscheinlich einer positiven.“
Am Abend beschließt Geri, zu Hause zu bleiben und Hanspeter die Kündigung schonend beizubringen. Am nächsten Morgen geht er früh in den Steiberger Supermarkt, kauft zwei günstige Flaschen Champagner und einen Beutel Eis und verstaut beides für den Abend im Kühlschrank.
Am Nachmittag steht Hanspeter verkatert und wortkarg auf, geht kurz ins Bad und verlässt die Wohnung mit der gemurmelten Erklärung „Mittwoch“. Es ist der Tag der wöchentlichen Auszahlung seiner Sozialhilfe.
Geri geht auf den kleinen Balkon, sucht sich eine freie Stelle zwischen den Müllsäcken und den Blumentöpfen, aus denen die Stummel der Cannabispflanzen ragen, und starrt auf die Siedlung hinunter. Ein alter Mann mit Rollator, an dem die Leine eines dicken Zwergpudels befestigt ist, geht über den verlassenen Spielplatz. Auf einem Balkon gegenüber telefoniert eine weißhaarige Frau und raucht.
Wenn Geri zwei Aufgaben vor sich hat, eine unangenehme und eine angenehme, dann packt er in der Regel die angenehme als Erstes an. Warum sollte er diesmal von diesem Prinzip abweichen?
Er wählt die Nummer der Hausverwaltung und sagt: „Ich nehme die Loft.“
Dann wartet er auf Hanspeters Rückkehr.
Erst um die Zeit der letzten S‑Bahn aus der Stadt – Geri ist gerade dabei, die zweite Flasche Champagner zu entkorken – stolpert Hanspeter ins Wohnzimmer und fragt: „Warum bist du nicht gekommen?“
„Gekommen? Wohin?“
„Ins Numberless. Super Abend, coole Crew, deine Clique.“
Die Vorstellung von Hanspeter, der sich Susi, Robi, Freddy, Carl, Peter, Rita und Charly aufdrängt, treibt Geri die Schamröte ins Gesicht.
Hanspeter deutet auf den Champagner und fragt: „Was gibt es zu feiern?“
Geri antwortet: „Meine Kündigung.“
Sie sind längst wieder beim lauwarmen Bier, als sie endlich schlafen gehen. Geri hat seinem abwechselnd jammernden und schimpfenden Vermieter auf immer wieder andere Weise die Vorzüge der „megageilen Miniloft“ erläutert und weshalb er trotz aller Vorzüge von Hanspeters Wohnung sich für diesen Schritt entschlossen hat. Bis dieser auf dem Sofa in einen lauten Schlaf gefallen ist.
Am nächsten Nachmittag begibt er sich zur Hausverwaltung und erledigt die Formalitäten. Danach hängt er ein wenig herum, bis es nicht mehr uncool ist, schon im Numberless aufzutauchen.
Alle sind schon dort. Auch Hanspeter. Er ist gerade dabei, die Details seiner Alice-Cooper-Lederjacke zu erklären. Alle hören ihm gebannt zu.
Den ganzen Abend bestreitet Hanspeter das Gespräch. Beim überstürzten Aufbruch zur letzten S‑Bahn sagt Freddy Gut zu Hanspeter: „Das hört ja jetzt bald auf, wenn ihr in eure megageile Miniloft, acht Minuten von hier, zieht.“