Die Weltenfrage
Es gibt eine Welt ausserhalb des Mucho Gusto und der SchampBar. Und weil Geri Weibel dazu neigt, sich seiner Umgebung anzupassen, gibt es auch einen Geri Weibel ausserhalb des Geri Weibels, den wir kennen.
Geri hat damit eigentlich keine Mühe. Es fällt ihm leicht, bei der zweiten Trauung seiner Cousine „So nimm denn meine Hände“ zu singen und nach einer langen Carfahrt, während der ein Onkel von Bräutigamsseite über Lautsprecher längst vergessene Mantafahrer-Witze erzählt, in einem Ausflugslokal zu „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ zu schunkeln.
Er kann auch als Ersatzverteidiger der Firmenmannschaft vor dem ersten Match des Grümpelturniers „Zigezage, zigezage, hoi, hoi, hoi!“ mitbrüllen oder zum Sechzigsten des Vaters im dunklen Anzug mit Silberkrawatte erscheinen und in der Produktion einiger SAC-Kameraden des Jubilars als Frau verkleidet „Macarena“ tanzen. Wenn auch lieber in der zweiten Reihe.
Geri kann sich in diesen Welten bewegen ohne deshalb in eine Identitätskrise zu geraten. Der Mensch ist vielschichtig, sagt er sich, wie das Leben.
Natürlich ist es entscheidend, dass nichts überlappt. Die Vorstellung, Freddy Gut aus der SchampBar könnte ihn dabei ertappen, wie er in roten Wandersocken mit Onkel Raimond und Tante Erna auf der Riederalp Käsefondue mit Tomaten isst, hat ihn damals den Ausflug beinahe absagen lassen. Und an der Waldweihnacht der „Jungen Kirche“ seines Neffen Reto hat er sich sehr vorsichtig umgeschaut bevor er sich eine Fackel aushändigen liess. Als er damals, noch ergriffen von der Feier, spät in der SchampBar auftauchte als ob nichts wäre, war er sich vorgekommen wie der Spion, der aus der Kälte kam.
Aber meistens kommt er sich eher vor wie ein Doppelagent. Und wie ein solcher verliert er bei dem ständigen Hin und Her zwischen den Fronten manchmal den Überblick. Einmal passiert es ihm, dass er beim Verlassen des Stammtisches im Mucho Gusto mit den Knöcheln dreimal kurz auf die Tischplatte klopft, und er sich mit der Bemerkung „nein, doch nicht furniert“ aus der Affäre ziehen muss. Ein andermal bestellt er bei der Klassenzusammenkunft im Kirchengemeindehaus Schwammendingen zum Apéro einen Tequila Red Bull und rettet sich in ein „oder ist das Rote, das Sie da ausschenken, Hallauer, Fräulein?“
Doch in der Regel gelingt es Geri, die Welten auseinanderhalten. Und falls ihm einmal eine kleine Unaufmerksamkeit unterläuft, sind die Welten einander so fremd, dass die eine die Signale aus der andern nicht als solche erkennt.
Aber an einem kalten Abend im Februar geraten die Dinge ausser Kontrolle. Geri geht, die Fäuste tief in seine Snöberjacke vergraben, Richtung SchampBar auf eine Night Cap. Die Gasse ist fast menschenleer. Ein Stück weiter vorn ergiesst sich ein Grüppchen lärmender Männer aus dem Doppelfass, einer Bierhalle mit Live-Musik. Geri kommt näher, schlängelt sich durch, ist schon beinahe vorbei. Da hält ihn einer am Arm fest und brüllt: „Leck mich alles am Arsch, der Pudding!“
Jetzt erkennt ihn Geri auch: Kurt Müller, Pfadiname Gröl. Sofort ist er umringt von Schnauz, Frosch, Gummi und Eule. „Das kostet dich eine Runde, Pudding. Kommt nicht zum Quartalshöck aber lässt sich auf der Gasse erwischen!“ johlt Gröl. Sie nehmen ihn in die Mitte und ziehen los.
Geri Weibels Mitgliedschaft bei den Pfadfindern ist ein unbewältigtes Stück Vergangenheit. So unbewältigt, dass er immer noch, wenn auch erst nach der dritten Mahnung, den Passivmitgliederbeitrag bezahlt. So unbewältgt sogar, dass er schon vorgekommen ist, dass er dem Quartalshöck beigewohnt und nach ein paar Gläsern gelöst in Erinnerungen an Zeltlagerüberfälle während Pfingstlagern geschwelgt hat. Die Welt der Altpfader ist die, die Geri bisher am säuberlichsten von der Welt der Robi Meilis, Susi Schläflis, Carl Schnells, Freddy Guts und wie sie alle heissen getrennt hat.
Und jetzt marschiert diese Welt „Die blauen Dragoner“ singend auf die Welt der SchampBar zu. Nicht auszudenken, wenn sie zusammentreffen.
„SchampBar!“, schreit Gröl, „was meinst du, Pudding?“
„Tote Hose“, winkt Geri ab. Gott, wenn die ihn dort Pudding nennen.
„SchampBar! SchampBar! skandieren Schnauz, Frosch, Gummi und Eule. Und schleppen Geri hinein.
Die Bar erstarrt, als die fünf Typen mit Geri Weibel „Bier her, Bier her, oder ich fall um“ zu grölen beginnen. Mitten in der zweiten Strophe verstummt Gröl und zeigt auf Robi Meili: „Leck mich alles am Arsch“, kreischt er, „Schnauz, Frosch, Gummi, Eule: erinnert sich von euch noch einer an Stink?“