Die Sommerlochfrage
Auch dieses Jahr bleibt Geri in den Sommerferien zu Hause. Das Risiko, das falsche Ferienziel zu wählen, ist ihm schlicht zu gross. Aber auch so ist die Ferienzeit eine schwere Prüfung. Sie unterbricht den natürlichen Lauf der Dinge. Es ist kompliziert genug, den Überblick über falsch und richtig zu behalten, wenn die Szene beisammen ist. Wenn sie sich in alle Welt verstreut, gerät sie vollends ausser Kontrolle.
Wenn sich im Juli das Fisch&Vogel leert und in der SchampBar die fremden Gesichter überhand nehmen, beginnt für Geri die Zeit der Orientierungslosigkeit. Dann sitzt er in seiner immer fremder werdenden Umgebung zwischen Shortsträgern und Menschen mit beschrifteten T‑Shirts („Auf und Davos!“) und fühlt sich mit jedem Tag deplazierter. Wer garantiert ihm, dass er sich nicht im Auge einer gigantischen Trendwende befindet, die alles durcheinanderwirbelt und einzig Geri Weibel zurücklässt als Kuriosität aus einer anderen Zeit mit anderen Kragen und Hosenbünden?
Manchmal hat Geri das Gefühl, die Ferien dienten Robi Meili und Konsorten nur dazu, aus der Lifestyle-Disziplin der Szene auszubrechen und unbeaufsichtigt mit unautorisierten Trends herumzuexperimentieren.
Nur allzu gut erinnert er sich an den Sommer 96, als Robi Meili mit einem Zehntagebart aus Barcelona zurückkam und zum Carajillo im – damals noch – Mucho Gusto El Pais las und darin Artikel anstrich. Geri hatte sich bereits drei Tage nicht rasiert und einen Kassetten-Schnellkurs Intensiv-Spanisch gekauft, als sich Robis damalige Freundin in der Bartfrage durchsetzte, und mit den Stoppeln auch El Pais verschwand. Nur der Carajillo hielt sich noch eine Weile.
Auch Susi Schläflis Rückkehr aus Bali ist ihm in lebhafter Erinnerung. Sie tauchte in der SchampBar mit nichts als einem Batik Sarong auf, bereit, ihn auf den kleinsten Wink abzuwerfen und ihre nahtlose Bräune und ihr neues Verhältnis zu ihrem Körper zu demonstrieren. Eine Zeitlang hatte sie die Stammkundschaft in ihren strengen, schwarzen Outfits etwas verunsichert. Erst als sie mit einer doppelten Lungenentzündung ins Spital eingeliefert wurde – sie hatte die Vorläufer der Herbststürme ignoriert -, verlief der Trend im Sand. Geri ärgerte sich, dass er vorsorglich die Hosenbeine seiner besten Jeans abgeschnitten und ausgefranst hatte.
Was Geri an den Nachferientrends am meisten zu schaffen macht, ist ihre Abruptheit. Trendwenden, die unter seinem wachsamen Auge geschehen, kündigen sich meistens durch Kleinigkeiten an. Auch wenn es ihm nicht jedesmal gelingt, die Zeichen frühzeitig zu lesen, so muss man ihm doch ein gewisses Sensorium attestieren und eine gewisse Erfahrung in der Seismologie der Trenderschütterungen seiner unmittelbaren Umgebung. Aber wie kann er vorausahnen, dass Freddy Gut nach den Ferien von Trance auf Chris de Bourg und von Gatorade auf Guiness umgestiegen ist, weil er auf Korfu eine Turnlehrerin aus Dublin kennengelernt hat?
Geri hat auch schon versucht, die Lifestyle-Anarchie, die in der Ferienzeit und der kurzen Zeit danach herrscht, zu geniessen. Er hat sein Hawaii Hemd, ein Fehlkauf aus dem Jahr 89, aus dem Schrank geholt, ist in die abgeschnittenen Jeans (ja, diese) geschlüpft und ist so am See spazieren gegangen. Aber es stellte sich kein Gefühl der Freiheit ein. Er fühlte sich wie ein schlecht verkleideter Spitzel, der jederzeit befürchten muss, erkannt, enttarnt und der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden.
Seither meidet Geri Weibel während der kritischen Wochen Ausbrüche aus der Lifestyle-Routine. Er hält sich an die Vorgaben der Vorferienzeit und versucht, die Ungewissheit der Nachferienzeit aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Die einzigen Ausbrüche aus der Routine sind seine Besuche in der Badeanstalt, wenn es das Wetter erlaubt.
Die Badeanstalt, vorausgesetzt, es ist die richtige, war im vorletzten Sommer voll im Trend und im letzten noch akzeptiert. Das Risiko, dass er sich damit in die Nesseln setzt, ist relativ gering. Er muss nur darauf achten, dass er nicht braun wird. Braun ist abgesehen von den gesundheitlichen Aspekten uncool, unurban und eine schlechte Kontrastfarbe zu Schwarz und Steingrau.
Geri arbeitet konsequent mit Schatten, Frotteetüchern, XXL-T-Shirts und 30er Blocker. Er übersteht das Trend-Sommerloch ohne Sonnenbrand und mit einer Haut, so weiss wie ein frischgebadeter Tunnelwart. Langsam füllen sich Fisch&Vogel und die SchampBar wieder mit den vertrauten Gesichtern. Geri ist froh, die vorbildlose, die schreckliche Zeit hinter sich zu haben und stiehlt sich vor dem Apéro jeweils ein halbes Stündchen fürs Solarium.