Die Personalityfrage

Kürz­lich isst Ge­ri Wei­bel am Stamm­tisch den Ta­ges­tip „Me­xi­ka­nisch-Ja­pa­ni­sche Freund­schaft“, ei­nen ge­misch­ten Tel­ler mit Ta­cos und Su­shi, und man ta­xiert bei Kaf­fee und Ma­te noch ein we­nig die an­dern Gäs­te. Da sagt Ro­bi Mei­li, der Trend­ba­ro­me­ter des „Mu­cho Gus­to“ plötz­lich: „Se­hen al­le ir­gend­wie gleich aus. Null Personality.“ 

Ei­ne bei­läu­fi­ge Be­mer­kung. Aber für Ge­ri Wei­bel löst sie ei­ne Sinn­kri­se aus, die fast schon phi­lo­so­phi­sche Di­men­sio­nen annimmt.

Es stimmt na­tür­lich, die Gäs­te glei­chen sich. Die glei­che Art Fri­su­ren, die glei­che Art Schu­he, die glei­che Art Klei­der, die glei­che Teil­nahms­lo­sig­keit. Sie se­hen al­le aus wie Ge­ri Wei­bel, wenn es ihm ge­lingt, rich­tig aus­zu­se­hen. Das ist nichts Neu­es. Auch frü­her, als die Gäs­te im „Mu­cho Gus­to“ an­ders aus­sa­hen, gli­chen sie ein­an­der und be­müh­te sich Ge­ri, ih­nen zu glei­chen. Es hat et­was mit Mo­de zu tun, und die­se et­was da­mit, sei­ne Per­sön­lich­keit aus­zu­drü­cken, wie Ro­bi Mei­li es nennt. Ro­bi Mei­li, der üb­ri­gens auch nicht viel an­ders aus­sieht als al­le an­dern im Lokal. 

Ge­ri muss sich aber ein­ge­ste­hen, dass Ro­bi Mei­li im­mer der ers­te ist, der die mo­di­sche Aus­drucks­form be­nützt, zu der sie an­dern erst spä­ter fin­den. Könn­te es sein, dass sie al­le im „Mu­cho Gus­to“ nur der mo­di­sche Aus­druck von Ro­bi Mei­lis Per­sön­lich­keit sind?

An die­sem Abend steht Ge­ri lan­ge vor dem Spie­gel und ver­sucht, von dem, was er sieht, auf sei­ne Per­so­na­li­ty zu schlie­ßen. Er schei­tert zu­nächst an der Fra­ge, ob die Bril­le da­bei als Aus­druck der­sel­ben zu gel­ten hat und da­her ab­zu­neh­men sei, oder ob sie, wie ihm der Op­ti­ker ver­si­chert hat­te, Teil der­sel­ben sei und er sie folg­lich auf­be­hal­ten muss. 

Ge­ri Wei­bel ist Bril­len­trä­ger, seit er, aus Angst, die fal­schen Leu­te zu schnei­den, wahl­los al­le zu grü­ßen be­gann, die abends die „Champ­Bar“ be­tra­ten. So war es ihm pas­siert, dass er ei­ner Sil­hou­et­te freund­lich zu­nick­te, die sich vor der Leucht­schrift beim Ein­gang („Die Champ­Bar wünscht e scham­par schö­ni Nacht“) ab­zeich­ne­te. Die Sil­hou­et­te war di­rekt auf ihn zu­ge­steu­ert und ge­blie­ben. Ge­ri muss­te den an­dern nach­her er­klä­ren, wie er sich ei­nen gan­zen Abend mit Fa­scho-Kurt ab­ge­ben kön­ne. Carl Schnell sag­te: „Sa­ge mir, mit wem Du gehst, und ich sa­ge Dir, wer Du bist.“

Gleich am nächs­ten Tag mel­de­te er sich beim Au­gen­arzt an. Seit­her ist er Bril­len­trä­ger und hat sei­ne Per­sön­lich­keit mit zu­erst ei­ner kreis­run­den, dann mit ei­ner rand­lo­sen, dann mit ei­ner horn­ge­fass­ten Bril­le va­ri­iert. Das Mo­dell, mit dem er sich jetzt aus­drückt, ak­zen­tu­iert den Brau­en­be­reich und lässt da­durch den dar­un­ter­lie­gen­den Ge­sichts­be­reich of­fe­ner und un­in­ter­pre­tier­ter er­schei­nen, wie der Op­ti­ker sag­te. Und sieht me­ga aus, wie Su­si Schläf­li schrie, als sie sie an Fred­dy Gut sah, der sich kurz da­vor das glei­che Mo­dell ge­kauft hat­te. Aber in Aubergine.

Ge­ri ent­schei­det sich schließ­lich da­für, die Bril­le zur Per­so­na­li­ty-Be­stim­mung auf­zu­be­hal­ten. Er ist nun ein­mal auf ei­ne Seh­hil­fe an­ge­wie­sen und da­durch ist die­ser Teil sei­ner Per­so­na­li­ty. Und dass sie so aus­sieht, er­klärt sich da­durch, dass die Per­sön­lich­keit Ge­ri Wei­bel sich für die­ses Mo­dell ent­schie­den hat. Dass er nicht der ein­zi­ge ist, der ein sol­ches oder ähn­li­ches Mo­dell trägt, liegt dar­an, dass Ge­ri Wei­bel und mit ihm sei­ne Per­so­na­li­ty den Ein­flüs­sen und Trends un­se­rer Zeit aus­ge­setzt sind. Des­halb ist es letzt­lich egal, ob sei­ne Bril­le Teil oder Aus­druck sei­ner Per­so­na­li­ty ist. 

Es ist, und so tief ist Ge­ri vor dem Ba­de­zim­mer­spie­gel noch nie ins Phi­lo­so­phi­sche vor­ge­drun­gen, ein und dasselbe.

Von da an ist al­les ganz leicht. Wenn Ge­ris Bril­le al­so sei­ne Per­so­na­li­ty IST, dann ist es auch sie, die er aus­zu­drü­cken hat. Und da ist er sich si­cher: Es gibt kei­ne prä­zi­se­re Form, die­se Bril­le aus­zu­drü­cken als mit ge­nau die­sem über dem Re­vers ge­tra­ge­nen Kra­gen ei­nes prak­tisch na­tur­fa­ser­frei­en Hem­des. Und die­ses durch die Auf­he­bung des Un­ter­schieds zwi­schen Teil und Aus­druck der Per­sön­lich­keit eben­falls per­so­na­li­ty-ge­wor­de­ne Hemd fin­det in kei­ner an­de­ren Fri­sur ih­ren Aus­druck, als in die­sem über dem Stirn­be­reich mit­tel­lang be­las­se­nen Kurzhaarschnitt. 

Ge­ri geht ins Bett in der be­ru­hi­gen­den Ge­wiss­heit, dass er sich per­so­na­li­ty­mäs­sig nichts vor­zu­wer­fen hat. Er be­sitzt sie und er drückt sie aus.

Aber die phi­lo­so­phi­sche Sinn­kri­se muss ihn auf­ge­wühlt ha­ben. Um vier er­wacht er mit dem Ge­dan­ken: Wenn Per­so­na­li­ty im Trend liegt, wie passt man sich die­sem an, oh­ne die­sel­be ge­nau da­durch zu verlieren?

Viel­leicht soll­te er auf Kon­takt­lin­sen wechseln.

Au­gust 1997

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