Die Novemberfrage
An einem kalten Novembernachmittag sitzt Geri schon um halb fünf in der SchampBar. Draußen geht ein Tag zur Neige, der gar nie richtig angebrochen ist. Schon am Morgen hat Geri es bereut, dass er nicht im Bett geblieben ist und sich mit heiserer Stimme krankgemeldet hat. Seit zwei Uhr hat er auf einen Vorwand gewartet, um früher zu gehen. Gegen vier ist er ohne Vorwand abgehauen.
Das hätte ihm eigentlich bereits zu denken geben sollen, so gut sollte er sich kennen. Aber erst als er bei Charly einen Ricard-ein-Stück-Eis bestellt und der ihn „einen was?“ fragt, wird ihm klar: Herbstdepression. Ricard ist ein untrügliches Anzeichen dafür. Sein sentimentalster Drink. Schmeckt wie ein längst vergangener Frühlingstag, mit jemandem voller accents auf dem Vornamen.
Die SchampBar ist leer bis auf „das Kind“, einen Twen mit Technofrisur, der seit dem Sommer mit der Financial Times hier herumlungert und darauf wartet, dass ihn jemand anspricht. Bis jetzt hat das von den Stammkunden noch niemand getan.
„So bleibt es jetzt bis im März“, sagt Charly, als er den Ricard-zwei-Stück-Eis mit Wasser auffüllt.
„Ein Eis“, sagt Geri.
„Hä?“, fragt Charly.
„Nichts“, murmelt Geri.
Charly zuckt die Schultern und macht sich an der Anlage zu schaffen. Wenn er jetzt seinen Jacques Brel einlegt, geh ich, denkt Geri.
Charly legt seinen Leonard Cohen ein. „Hast du nichts Aufgestellteres?“, erkundigt sich Geri.
„Passt doch zum Wetter“, gibt Charly zurück und räumt vorwurfsvoll den Aschenbecher weg, in welchem Geris zweites Eisstück schmilzt. „Wenn du nur ein Stück Eis willst, musst du es bei der Bestellung sagen.“
An seinem Tischchen blickt „das Kind“ kurz von seiner Financial Times auf und lauscht der Musik. Geri dämmert, dass es wahrscheinlich noch nie in seinem Leben Leonard Cohen gehört hat und fühlt sich plötzlich alt. Er nimmt einen Schluck. Als er das Glas abstellt, begegnet er seinem Blick in der Spiegelwand hinter dem Flaschenregal und stellt fest: Er fühlt sich nicht nur alt, er sieht auch alt aus. Ein auf jung gestylter, schlecht erhaltener Mittdreissiger, c’est tout (der Ricard wirkt). Ein Anachronismus, wie Leonard Cohen in einer In-Bar an einem Spätnachmittag im November.
Der schlecht erhaltene Mittdreißiger in der Spiegelwand bestellt noch einen Ricard. Zum ersten Mal fällt Geri auf, dass seine hohe Stirn auch als Stirnglatze durchgehen könnte. Und die Stirnlocke als Versuch, diese zu kaschieren. Vielleicht ist das der Anfang der über den kahlen Schädel drapierten überlangen Schläfenhaare, durchfährt es Geri. Vielleicht haben sich die beiden jungen, lächelnden Chicks heute im Tram über seine Frisur lustig gemacht. Und er hat selbstbewusst zurückgelächelt. Ein Sugar Daddy im öffentlichen Verkehr.
„Chicks“? Sagt man das überhaupt noch? Bestimmt nicht. Bestimmt klingt er wie damals sein alter Onkel Bruno, der „Wunderschabe“ sagte.
Geri nuckelt am Ricard und meidet sein Spiegelbild. Oder ist das die Midlife Crisis? Fängt die nicht so an? Fühlt man sich nicht plötzlich alt, und alles kommt einem sinnlos vor, was man bisher getan hat und noch tun wird? „Like a bird on the wire“, singt Leonard Cohen. Jeden Tag in derselben Bar, dieselben Leute, dieselben Belanglosigkeiten. Und plötzlich merkt man, dass das sein Leben ist, das hier vorbeigeht.
Inzwischen ist es fünf geworden. Noch immer kein Gast, ausser „dem Kind“. Vielleicht ist die SchampBar längst out und Geri der einzige, dem das entgangen ist. Vielleicht geht er so blind durchs Leben, dass es ihm nicht aufgefallen ist, dass sie seit Monaten die einzigen Gäste sind.
Geri läuft es kalt den Rücken runter. Vielleicht befinden wir uns im Jahr 2010, und er hat ein Blackout von 13 Jahren. Und trägt als einziger Mensch den Hemdkragen über dem Revers. Und vier Vestonknöpfe. Und Nikes.
Geri deutet auf sein leeres Glas. Charly bringt noch einen Ricard. „Santé“, sagt er.
„Merci“, antwortet Chéri Weibel und nimmt sich vor, sein Leben zu ändern.
Da geht die Tür auf und Freddy Gut betritt das Lokal, steuert auf Geri zu und sagt zu Charly: „Mach bitte andere Musik, davon wird man ja noch depressiver.“ Freddy trägt den Hemdkragen über dem Revers, vier Vestonknöpfe und Nikes.
Geri sieht sich lächeln zwischen den Flaschenreihen. Vielleicht braucht er das Leben ja doch nicht zu ändern.
Aber eventuell die Frisur.
November 1997