Die Meinungsfrage
Geri ist nicht einer, der die Öffentlichkeit sucht. Aber er scheut sie auch nicht. Als er die Fernsehkamera und die junge Frau mit dem Mikrophon sieht, wechselt er nicht die Strassenseite. Er geht einfach weiter, um ihr Gelegenheit zu geben, ihre Frage zu stellen, wenn es denn sein muss.
Ein Stück vor ihm werden zwei junge Mädchen von der Reporterin abgefangen und geben eine kichernde Erklärung ab. Geri verlangsamt seinen Schritt.
Als er auf gleicher Höhe mit dem Reporterteam ist, verabschiedet sich die Frau von den Mädchen, schaut sich suchend um und lächelt Geri an. „Darf ich Ihnen eine Frage stellen?“ Er nickt. „Was halten Sie von Piercing?“
„Piercing?“ Wie das Leben ziehen vor Geris geistigem Auge die Statements seiner Meinungsmacher zu allen aktuellen Trends vorüber. Zu Piercing ist nichts darunter. Weshalb konnte sie ihn nicht zu etwas befragen, zu dem sich Mucho Gusto und SchampBar offiziell verlautbart haben. „Piercing?“
Die Frau wartet mit gefrorenem Lächeln auf seine Antwort. Geri lässt Mucho Gusto und SchampBar Revue passieren und stösst auf kein Piercing, von Alfred Hubers Brillantstecker im Ohrläppchen abgesehen. Er fühlt sich daher ziemlich sicher, als er antwortet: „Piercing? Finde ich sehr unästhetisch.“
„Vielen Dank“, sagt die Reporterin und schaut sich bereits wieder suchend um. Geri besitzt die Geistesgegenwart zu fragen: „Wo kommt das?“
„Im Hotspot am nächsten Sonntag“ antwortet sie und nimmt sich den nächsten Passanten vor, einen älteren Herrn.
Zu Hotspot gibt es, im Gegensatz zu Piercing, sehr wohl eine offizielle Verlautbarung aus Geris Kreisen: angestrengt coole Pubertätssendung zur Mitarbeiter-Nachwuchsförderung am Sonntagnachmittag. Seine Mitwirkung bei der Sendung wird ihm so übel ausgelegt werden, dass er nur hoffen kann, sein Statement zu Piercing sei einigermassen mehrheitsfähig im Mucho Gusto und in der SchampBar.
Geri beginnt sich umzuhören. Aber es ist wie verhext: Über alles wird am Stammtisch und an der Bar geredet – das Dreiliter-Auto, geklonte Ersatzlebern, Download-Zeiten am Internet – nur über Piercing fällt kein Wort. Anfänglich ist Geri beruhigt. Wenn Piercing schon als Thema dermassen out ist, ist es das als Praxis wohl noch mehr.
Aber je näher der Sonntag rückt, desto unruhiger wird er. Am Mittwoch macht er den ersten Versuch, das Thema aufs Tapet zu bringen. Carl Schnell leidet unter einem Schnupfen und Geri nützt die Stille nach dem Schneuzen für die Bemerkung: „Sei froh, dass dein Nasenflügel nicht gepierced ist.“
„Das kann man rausnehmen bei Schnupfen“ erklärt Freddy Gut. Damit ist das Thema erledigt. Geri bleibt der ungute Eindruck, Piercing geniesse am Stammtisch eine gewisse Akzeptanz. Noch schlimmer: Freddy Gut hat geklungen, als besässe er Sachkenntnis, wenn nicht gar Erfahrung darin. Geri läuft es kalt den Rücken herunter. Piercing wird ja nich nur an sichtbaren Stellen praktiziert. Im Gegenteil. Vielleicht ist die ganze SchampBar und das ganze Mucho Gusto unter den Kleidern an den haarsträubendsten Stellen gepierced. Und er, Geri, unversehrt und ahnungslos, denunziert die Praxis in aller Öffentlichkeit als sehr unästhetisch.
Am Donnerstag sucht er eine Gelegenheit, mit Susi Schläfli allein zu sein. Von ihr hofft er mehr zu erfahren, denn sie ist erstens indiskret und zweitens vertraut mit der Anatomie einiger der Stammgäste. Als sie frisch geschminkt aus der Toilette kommt, fängt er sie mit einem Cüpli ab und lotst sie an die Bar. Nach ein paar einleitenden Floskeln geht er nach Plan vor.
„Schöne Ohrringe“, bemerkt er.
„Danke.“
„Wenn man bedenkt, andere Leute haben das an den unglaublichsten Stellen…“ Weiter kommt Geri nicht. Susi hält die Hand vor den Mund, als ob sie ein Gähnen verbergen müsste und stösst ein gelangweiltes „die Piercing-Masche“ hervor. Dann trinkt sie das Glas aus und lässt Geri stehen.
Wie gesagt, Susi ist indiskret. Noch am gleichen Abend weiss es das ganze Lokal: Der Geri steht auf Piercing.
Geri, der ursprünglich vorhatte, seinen Auftritt im Hotspot geheimzuhalten, sorgt jetzt dafür, dass am Sonntag um zwei im Mucho Gusto der Fernseher läuft. Ein öffentlicheres Dementi kann er sich nicht wünschen. Und er hat Glück: Es regnet. Das Lokal ist gut besetzt. Alle wichtigen Leute sind da. Als die Strassenumfrage beginnt, macht Geri den Ton etwas lauter. Ein Raunen geht durch das Lokal, als nach einer endlos scheinenden Reihe von pointierten Aussagen zum Phenomen Piercing plötzlich Geri gross im Bild die Schlusspointe liefert, sein Gesicht ein einziges Fragezeichen:
„Piercing?“