Die Kultfrage

In Trend­fra­gen ist Ge­ri Wei­bel wie ein Kind: er braucht Gren­zen. Er will wis­sen was in ist und was out und hasst je­de Form von In­ter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum. Er liebt das Kla­re und Festumrissene.

Des­halb miss­traut er dem Be­griff KULT. Mit ihm ver­liert sich Ge­ris Richt­schnur im­mer wie­der im Ne­bu­lö­sen, denn KULT ist ei­ne drit­te Ka­te­go­rie ne­ben gut und schlecht.

Als der Ro­cky Hor­ror Pic­tu­re Show-KULT Jah­re nach der Pre­mie­re des Films in die Schweiz schwapp­te und man als Doc­tor Frank-N-Fur­ter ver­klei­det in der Vor­stel­lung mit Reis­kör­nern warf und Ker­zen an­zün­de­te, war ihm noch ei­ni­ger­mas­sen klar, was der Be­griff be­deu­te­te: KULT war, wenn ei­ne Min­der­heit von Ein­ge­weih­ten et­was ziem­lich Däm­li­ches zum ab­so­lut Gröss­ten er­klär­ten. Er sah sich im Schlepp­tau von Ro­bi Mei­li ei­ne Vor­stel­lung an und gab sich Mü­he, des­sen Be­geis­te­rung zu tei­len, was ihm ei­ni­ger­mas­sen ge­lang. Je­den­falls brach­te er es auf vier­zehn Vor­stel­lun­gen und galt in der Schamp­Bar ei­ne Wei­le ne­ben Ro­bi Mei­li als die zwei­te RHPS-In­stanz. Erst als die­ser ihn vor al­len Stamm­gäs­ten mit ei­nem an­ge­deu­te­ten Gäh­nen frag­te: „Wirst du ei­gent­lich nie er­wach­sen?“, _ Ge­ri war ge­ra­de da­bei von der Ro­cky Hor­ror Pic­tu­re Show-Ma­ti­nee vom letz­ten Sonn­tag zu er­zäh­len – liess er das The­ma fallen.

KULT ist in Ge­ris Au­gen ei­ne Er­fin­dung, de­ren Zweck es ist, an­de­re aus­zu­schlies­sen. Sei es da­durch, dass sie ihm noch nicht oder sei es da­durch, dass sie ihm noch im­mer frö­nen. Bei je­dem neu­en KULT fühlt er sich wie da­mals beim „Ma­gi­schen Au­ge“, als plötz­lich das hal­be „Mu­cho Gus­to“ (da­mals ging man noch ins „Mu­cho Gus­to“) mit ge­bro­che­nen Au­gen auf far­bi­ge Mus­ter stier­te und be­geis­tert rief „Ich hab’s“ oder „Jö! Zwei bo­xen­de Känguruhs!“

Ge­ri war ne­ben Carl Schnell, der vor­gab, sich nicht da­für zu in­ter­es­sie­ren, der ein­zi­ge, der die drei­di­men­sio­na­len Il­lu­si­ons­bil­der nicht se­hen konn­te. So an­ge­strengt er sich auch dar­auf kon­zen­trier­te, sich auf gar nichts zu kon­zen­trie­ren, durch das Bild hin­durch­zu­schau­en und es vor sei­nem Au­ge ver­schwim­men zu las­sen, es blieb ei­ne Ta­pe­te aus ge­schmack­lo­sen Com­pu­ter­mus­tern. Die bo­xen­den Kän­gu­ruhs blie­ben Ge­ri für im­mer ver­schlos­sen. Und da­durch der KULT an der Sa­che. Denn so­viel ist Ge­ri klar: KULT an ei­ner Sa­che ist ge­nau das, was dem Au­ge des Un­ein­ge­weih­ten ver­bor­gen bleibt.

Die­ses Ab­seits­ste­hen ist schon für ei­nen Men­schen schmerz­lich, des­sen Le­bens­ziel nicht dar­in be­steht, da­zu­zu­ge­hö­ren. Für Ge­ri Wei­bel ist es der rei­ne Hor­ror. Das Pro­blem mit dem ma­gi­schen Au­ge konn­te er da­mals noch da­durch lö­sen, dass er heim­lich sämt­li­che Bän­de des ma­gi­schen Au­ges kauf­te und sich die ver­bor­ge­nen Bild­su­jets und ih­re Sei­ten­zah­len auf der Auf­lö­sungs­sei­te einprägte.

Aber wo fin­det er die Auf­lö­sungs­sei­te bei, z. B., Ha­rald Schmidt? Was muss er tun, da­mit sich im Ta­pe­ten­mus­ter aus ge­schmack­lo­sen Wit­zen die bo­xen­den Kän­gu­ruhs her­aus­bil­den, die Ha­rald Schmidt zu KULT machen?

Wenn er sich die Sen­dung mit Ein­ge­weih­ten an­schaut, kann er ja noch la­chen an den Stel­len, wo al­le la­chen. Aber wann schaut sich ei­ner wie Ge­ri ei­ne La­te Show in Ge­sell­schaft an? Und wie merkt er al­lein vor dem Bild­schirm, wel­che Sprü­che er sich mer­ken und beim Mit­tag­essen im Fisch&Vogel zum bes­ten ge­ben soll?

Noch schwie­ri­ger: Ve­ro­na Feld­busch. Ge­ri hat kei­ne Ah­nung, was an ihr KULT sein könn­te, aber weiss auch nicht, was pein­li­cher ist: Nicht mit­re­den zu kön­nen oder zu­zu­ge­ben, dass er nachts al­lei­ne Sex-Sen­dun­gen anschaut.

Wie ei­gent­lich bei al­len wich­ti­gen Fra­gen des Le­bens hat Ge­ri auch bei der Kult­fra­ge kei­nen Men­schen, mit dem er dar­über re­den kann, oh­ne sich zu bla­mie­ren. Des­we­gen ist er auch hier auf sei­ne ei­ge­ne Theo­rie an­ge­wie­sen. Sie lau­tet: Im bes­ten Fall ist KULT die Be­zeich­nung für ein Kul­tur­pro­dukt, des­sen Er­folg sich auf ein sehr klei­nes Pu­bli­kum be­schränkt. Kult­bü­cher, Kult­fil­me und Kult­stars wer­den zwar nur von ei­ner win­zi­gen An­hän­ger­schaft da­für aber um­so fre­ne­ti­scher gefeiert.

Im Nor­mal­fall ist KULT ei­ne Kon­ven­ti­on über al­le Gren­zen des Ge­schmacks hin­weg, et­was aus Grün­den, die Aus­sen­ste­hen­den ver­bor­gen blei­ben, KULT zu finden.

Im schlimms­ten Fall ist KULT ei­ne Ver­schwö­rung der Welt ge­gen Ge­ri Wei­bel mit dem Ziel, ihm je­den Tag aufs Neue vor Au­gen zu füh­ren, dass er ir­gend­wie da­ne­ben ist.

Der schlimms­te Fall be­säs­se den Vor­teil, dass Ge­ri Wei­bel dann selbst KULT wäre.

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