Die Körperfrage
GERI WEIBEL BESITZT kein sehr ausgeprägtes Körperbewusstsein, was seinen eigenen Körper angeht. Die Körper anderer Leute hingegen nimmt er sehr bewusst zur Kenntnis. Sowohl die weiblichen als auch die männlichen, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die männlichen zum Vergleich und um auf dem Laufenden zu bleiben, wohin der Trend geht.
Körpertrends gehören zu den Trends, die Geri am meisten Sorgen machen. Der Anpassungsfähigkeit des menschlichen Körpers an einen Trend sind ja gewisse Grenzen gesetzt. Geri, der ein hervorragender Verbrenner ist, hat zum Beispiel sehr gelitten, als zum Zeichen dafür, dass man es sich leisten konnte, sich dem Diktat der Hochleistungsgesellschaft nicht restlos zu unterwerfen, ein leichter Hang zur Rundlichkeit angesagt war. Geri befolgte damals mehrere strikte Diäten: Er achtete streng darauf, Kohlenhydrate und Eiweiß ungetrennt einzunehmen, aß zum Frühstück, Mittag und Abend wie ein König, naschte jede Menge Süßigkeiten zwischendurch und mied alle Tätigkeiten, die im Ruf stehen, Kalorien zu verbrennen. Seine Gewichtszunahme nach drei Monaten betrug 200 Gramm, bestenfalls 350, so genau konnte er es nicht sagen, die Skala seiner elektronischen Waage zeigte nur 200er-Schritte an.
Während Robi Meili, das Trendbarometer des „Mucho Gusto“, mühelos Gewicht zulegte, und Freddy Gut, die Modeautorität der „SchampBar“, mit Pausbäckchen aufwartete, blieb Geri mager wie ein Orientierungsläufer.
Der Körpertrend ging dann zum Glück weg vom Gemütlichen, hin zum Agilen. Eine Wende, mit der Robi Meili und Freddy Gut etwas Mühe bekundeten, wie Geri nicht ohne Schadenfreude beobachtete. Er selbst brachte das Überschlanke problemlos. Nur mit dem Schlacksigen hatte er Mühe. Wahrscheinlich verkrampfte er sich zu sehr beim Versuch, absolut entspannt zu wirken. Der komplizierte Oberschenkelbruch (drei Schrauben), den er sich dann bei seinem ersten Rollbrettversuch (zur Auflockerung) holte, war wie eine Erlösung. Zwei Krücken enthoben ihn für ein paar Wochen der Pflicht, unangestrengt zu wirken.
Geri ist nicht eigentlich unsportlich. Er war ein zäher Verteidiger in seiner Schüler-Fußballmannschaft (Nr. 2), ein ausdauernder Langläufer während der Mittelschule, und als Radfahren Mode wurde, beeindruckte er als hartnäckiger Passfahrer. Wenn es ihm sportlich an etwas fehlt, ist es höchstens eine gewisse Eleganz, ein wenig Ballgefühl und die Freude an den Bewegungsabläufen. Geri ist ein Kämpfer, kein Spieler.
Deswegen kommt ihm der Workout Trend sehr entgegen. Die Verbissenheit, unter der seine Bemühungen, nichts falsch zu machen, manchmal leiden, ist bei der Arbeit an den Gewichten ein Vorteil. Schon beim Probetraining im von Robi Meili beiläufig erwähnten (also nachdrücklich empfohlenen) Fitness Club merkt Geri Weibel, dass er seine Sportart gefunden hat. Der einzige, den er besiegen muss, ist er selbst. Ein schwacher Gegner, wie er aus Erfahrung weiß. Jedes Mal, wenn er das Handtuch werfen will, zwingt er ihm noch eine Sequenz auf, legt er ihm ein Kilo drauf, verkürzt er ihm die Intervalle. Noch am selben Abend füllt er mit vor Anstrengung zitternder Hand das Anmeldeformular für den Jahresbeitritt aus.
Geri Weibel investiert von nun an einen Großteil seiner Energie in die Ausformung seines Körpers. Das fördert sein Körperbewusstsein, aber leider auch das für andere Körper. Zum Beispiel für Freddy Guts. Dessen überflüssig gewordene Pfunde müssen sich in Muskulatur verwandelt haben. Jedenfalls kann er es sich bereits leisten, die Muskeln mit XXL T‑Shirts und Schlabberhosen herunterzuspielen, während er, Geri, eher die körperbetonten Stücke aus seiner Garderobe zum Zuge kommen lässt. Nur so lassen sich die Früchte seiner Anstrengungen einigermaßen erahnen.
Früchtchen, eher. Es ist, als ob die Muskelfasern, die er durch unbarmherziges Krafttraining aufbaut, fort zu durch die Anstrengung abgebaut würde, die dieses ihn kostet. Die Energie, die er aufwendet, um Muskeln zu bilden, verbrennt diese bereits im Ansatz. Während es abends in der „SchampBar“ langsam eng wird vor lauter dazugewonnener Muskelsubstanz, wird Geri immer drahtiger.
Nun hat er sich einen Personal Trainer auf ein Jahr fest verpflichtet. Der garantiert einen harmonischen Muskelzuwachs dank gezieltem Training und wissenschaftlich dosierter Kraftnahrung.
Da hört er Evi Klein, die schönste Frau der „SchampBar“, zu Susi Schläfli sagen: „Wenigstens nicht auf dem Muskeltrip.“
Meint sie ihn?
Juni 1997