Die Gewaltfrage
Ganz tief in Geri drin schlummert ein Ledernacken, der alles niedermachen würde, was sich ihm in den Weg stellt, wenn er ihn liesse. Geri kennt ihn seit dem Sandkastenalter.
Er sass vertieft vor einer sauber ausgerichteten Reihe Sand-Gugelhöpfen, die er vorsichtig, einen nach dem anderen, aus seinem Kesseli gestürzt hatte. Plötzlich begann Sylveli Frei ohne Anlass einen nach dem anderen kaputtzuschlagen. Fünf Gugelhöpfe lang schaute er dem Gemetzel sprachlos zu, beim sechsten erwachte der Ledernacken in ihm. Der hob sein grünes Schüfeli und schlug es Sylveli Frei über die dünnen blonden Löckli. Acht Stiche.
Damals lernte Geri den Unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen. Und er erfuhr, wie es ist, wenn man vom Sandkasten ausgeschlossen wird. Seither passt er genau auf, an welche Regeln man sich halten muss, um im Sandkasten geduldet zu sein. Eine lautet: Den inneren Ledernacken ruhigstellen.
So entwickelt sich Geri zu einem artigen Kind, fügsamen Jungen und harmoniebedürftigen Erwachsenen. Niemand ahnt, dass in seinem daunenweichen Innern ein Ledernacken schlummert, bereit, Tramkontrolleuren ins Gesicht zu springen, kleine Hunde zu treten, blasierte Verkäuferinnen niederzumachen und alte Damen an verkehrsreichen Kreuzungen im Stich zu lassen.
Nur ganz selten spielte ihm der gezähmte Ledernacken einen Streich. Zum Beispiel damals, als er ihn in „Ein Mann sieht rot“ schleppte und Geri sich von Carl Schnell beim Verlassen des Kinos erwischen liess. Oder damals, als er ihn bei der Armeeabschaffungsinitiative mit vorgehaltenem Sturmgewehr zwang, ein „Nein“ in die Urne zu werfen. Aber meistens hat er ihn im Griff.
Das ist auch nötig, denn die Gewaltfreiheit ist eine der wenigen Konstanten im sonst doch eher trendbestimmten Zusammenleben von Geris Szene. „Ich fände es jetzt wirklich fair, wenn ihr mich Schluss machen liesset“, ist das Äusserste an Druck, das Charly, der Barman der SchampBar anwendet, wenn die letzten Gäste auch bei Elvis’ drittem „Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus“ keine Anstalten zum Austrinken machen. Und zu härteren Ausdrücken als „findest du das gut?“ wird selbst dann nicht gegriffen, wenn im Fisch&Vogel eine Dreiviertelstunde nach der Bestellung des Menu 1 der Bescheid kommt, es sei nur noch das Menu 2 da.
Auch Auseinandersetzungen zwischen den Stammgästen, werden zivilisiert ausgetragen. Als Alfred IZMIR Huber in einer Diskussion über das Meditative im Techno Susi Schläfli vorwirft, sie lasse wieder einmal nur Scheisse raus, wird er von ihr wegen „Anwendung von verbaler Gewalt“ so lange geschnitten, bis ihr Carl Schnell nachweist, dass sie damit ihrerseits einen „Akt sozialer Gewalt“ begeht.
Auch auf dem internationalen Parkett verfolgen Fisch&Vogel und SchampBar eine pazifistische Linie. Carl Schnell hegt im Zusammenhang mit der UNO/NATO Interventionspolitik ernste Bedenken hinsichtlich deren völkerrechtlicher Legitimation, die auch von Geri geteilt werden. Geri, dessen innerer Ledernacken damals während der Operation DESERT STORM fasziniert die IMPACTS der intelligenten Waffensysteme reingezogen hatte.
Aber in letzter Zeit glaubt Geri eine Aufweichung der pazifistischen Front im Fisch&Vogel und in der SchampBar zu beobachten. Es sind, wie immer bei grossen Trendwenden, winzigste Anzeichen, die nur das geschulte Auge wahrnimmt: Charly muss an der Espressomaschine eine Gummidichtung ersetzen und hat keinen Kreuzschlitzschraubenzieher zur Hand – Alfred IZMIR Huber hilft ihm mit einem LEATHERMAN aus, der Hightech-Version des Rambomessers.
Robi Meili kommentiert das Ultimatum an Milosevic mit einem beiläufigen „gewisse Leute verstehen nun einmal keine andere Sprache“ – und Carl Schnell widerspricht ihm nicht.
Freddy Gut taucht an einem nicht einmal besonders rauhen Dezembertag mit Schuhen auf, die wie Fallschirmstiefel aussehen – nur schwerer.
Es sind diese untrügerischen Hinweise auf einen Wandel hin zu einem unverkrampfteren Umgang mit der Gewalt, die Geri ermutigen, in der Spielwarenabteilung seines Lieblingswarenhauses dem Drängen seines inneren Ledernacken nachzugeben. Er schenkt Susi Schläflis Söhnchen Tonito zu Weihnachten eine kleine aber täuschend echte Wasser-Maschinenpistole. Wie zur Bestätigung der vermuteten Trendwende in der Gewaltverzichtsfrage schlägt sie ihm Susi Schläfli über den Kopf. Zehn Stiche.