Die Gesundheitsfrage
Früher hiess das Fisch&Vogel Zum Kreuz und hatte einen olivgrünen Nadelfilzboden, senfgelbe, grobgewobene Vorhänge und in der kalten Jahreszeit einen Windfang aus rotbraunen Rossdecken. Mario und Lilo reduzierten dann das Lokal auf das Essentielle und legten seinen Parkettboden frei. Jetzt zieht es im Winter, vor allem am Stammtisch, der nahe bei der Tür steht.
Dafür ist die SchampBar im Winter überheizt. „Ihr kommt aus der Kälte, aber ich frier mir hier den ganzen Abend den Arsch ab“, sagt Charly, der Barman, wenn man ihn bittet, die Heizung herunterzudrehen oder wenigstens ein Fenster zu öffnen.
Wenn man die Wintermonate hindurch auf den Traumpfaden der Szene wandert – von der Nasskälte der Stadt in den Durchzug des Fisch&Vogel und von dort wieder durch die Nasskälte der Stadt in die Bruthitze der SchampBar – kann es passieren, dass man ab und zu eine Erkältung aufliest. Für Geri etwas vom Schlimmeren, was ihm passieren kann. Nicht, weil er die Krankheit schlecht verkraftet – er ist nicht wehleidig und besitzt eine gute Konstitution – sondern weil sie ihn in Teufels Küche bringt. Denn bei aller Übereinstimmung in beinahe allen anderen Fragen des Lebens: medizinisch ist die Szene des Fisch&Vogel und der SchampBar zerstritten. Weder diagnostisch noch präventiv noch therapeutisch herrscht unité de doctrine.
Das Schlimme an einer Erkältung besteht für Geri darin, dass er mit jeder Art, sie zu behandeln Stellung beziehen und die weltanschauliche Harmonie seiner Umgebung stören muss. Darum unterdrückt er den Niesreiz, der ihn am Stammtisch des Fisch&Vogel mitten in einem Statement zum Phänomen Leonardo di Caprio überfällt. Aber Susi Schläfli bemerkt seine Grimasse. Sie schirmt demonstrativ ihre Atemwege mit dem Schal ab. „Bist du erkältet?“, fragt sie. Vorwurfsvoll, denn seit Tonino auf der Welt ist setzt Geri mit seinem Niesen die Gesundheit von Mutter und Kind aufs Spiel.
„Nicht, dass ich wüsste“, antwortet Geri obenhin.
„Deswegen ist eure Lebenserwartung niedriger als unsere, weil ihr nicht auf euren Körper hört.“
Susi Schläfli steht auf dem Standpunkt, dass der Körper ein selbständiges Wesen ist, das dem, der es bewohnt, verschlüsselt seine Bedürfnisse mitteilt und ihn mit, z.B., Niesreiz bestraft, wenn er sie nicht erfüllt.
„Echinaceae“, sagt Freddy Gut. Seit ich Echinaceae nehme, habe ich den ganzen Winter nichts. Zwanzig Tropfen abends und morgens. Bei den ersten Symptomen. War schon bei den Indianern als Heilpflanze bekannt.“
„Ich weiss nicht, ob ich mich medizinisch an einem praktisch ausgestorbenen Volk orientieren würde“, wirft Carl Schnell ein. „Ich halte mich da lieber an die Chinesen. Dreissig Tropfen Ginseng. Mein Akkupunkteur nimmt das seit seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag und war nie mehr krank. Jetz ist er vierundsechzig.“
Geri unterdrückt wieder ein Niesen. „Vielleicht etwas Allergisches?“ schlägt Alfred Izmir Huber vor.
Geri schüttelt den Kopf. „Ich bin auf nichts allergisch.“
„Das kannst du in einer Umwelt, die jeden Tag durch neue Wirkstoffe vergiftet wird, nicht mehr einfach so sagen“, gibt Carl Schnell zu bedenken.
„Was unternimmst du dagegen?“ will Susi Schläfli wissen. Genau die Frage, die Geri befürchtet hat. Er will sich nicht wieder blamieren wie damals, als er, leicht erkältet, in der SchampBar ein Glas lauwarmes Wasser bestellte und Grapefruitkern-Öl hineinträufelte. „Spuck es aus“, hatte Susi Schläfli geschrien, „es ist synthetisch!“ Geri weiss bis heute nicht, wie ihm der Skandal um das falsch deklarierte Grapefruitkern-Öl hatte entgehen können, der den Siegeszug des trendigen Allheilmittels jäh gestoppt hatte.
Geri legt sich diesmal nicht fest. Er fragt: „Was schlägst du vor?“
„Teebaumöl“, antwortet Susi ohne Zögern. „Drei Tropfen in heisses Wasser und inhalieren. Morgen bist du wieder voll da.“
„Uña de gato“, schlägt Carl Schnell vor, „Tee aus einer Rinde aus dem peruanischen Regenwald. Drei Tassen täglich und du bist immun.“
Robi Meili winkt ab. „Zink ist das einzige, was in diesem Stadium gegen Erkältung hilft. Eine Überdosis Zink.“
Am Abend erscheint Geri Weibel mit einer Tragtasche in der SchampBar. Sie enthält Echinaceae, Ginseng, Teebaumöl, uña de gato und Zinktabletten.
Die vollsynthetischen gefässverengenden, schleimhautabschwellenden Schnupfentabletten stecken in der Hosentasche.