Die Begrüßungsfrage
Im Jahr 1997 begann Martin Suter mit einer neuen Kolumne in FOLIO, der Monatsbeilage der NZZ. Hier wächst das Archiv dieser Reihe langsam heran.
Es gibt Leute, die können tun, was sie wollen, es sieht immer richtig aus. Geri Weibel ist nicht einer von ihnen. Er muss sich alles erarbeiten. Wenn etwas bei ihm richtig aussieht, dann ist das das Resultat von präziser Umsetzung genauer Beobachtungen. Nicht, dass er besonders ungelenk wäre. Er verfügt durchaus über eine gewisse natürliche Anmut, wenn er unbeobachtet ist. Aber Geri Weibel ist nie unbeobachtet, denn er beobachtet sich selbst. Er sitzt sich im Nacken und wartet auf seinen nächsten Fehler. Meistens muss er nicht lange warten.
Das wäre weniger schlimm, wenn er sich nicht in Kreisen bewegen würde, die aus Prinzip keine Fehler machen. Sie tragen das Richtige, und das Richtige nicht mehr, sie vertreten die richtigen Meinungen, bestellen die richtigen Digestifs und begrüßen sich mit der richtigen Anzahl Küssen. Etwas, das ihm im Moment besonders schwerfällt.
Geri Weibel ist alt genug, sich noch an die Zeit erinnern zu können, als man sich kusslos begrüßte. Damals waren Dosierung des Händedrucks und Dauer des Augenkontakts eigentlich alles, was man bei der Begrüßung falsch machen konnte. Aber er war dann auch unter den Pionieren, die den Begrüßungs- und Abschiedskuss nicht mehr nur als Ausdruck der Frankophilie verstanden haben wollten, sondern als Zeichen dafür, was für ein zärtliches Volk wir Schweizer nämlich sind. Er wandte den einfachen, später den doppelten, dann den dreifachen Begrüßungskuss an, und hätte diese Steigerung ohne Weiteres fortgesetzt (war sogar schon versucht gewesen, spontan dem Vierfachen eine Bresche zu schlagen), hätte ihn nicht die plötzliche Begrüßungskuss-Liberalisierung aus dem Konzept gebracht.
Geri Weibel ist einer, dem der spielerische Umgang mit Regeln nicht gegeben ist. Er will wissen, was falsch und was richtig ist. Und dann hält er sich daran, bis neue Weisungen kommen. Aber in der Begrüßungsfrage gibt es plötzlich nichts mehr, woran er sich halten kann. Für Geri Weibel, der, wenn man sich zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden kann, dazu neigt, die falsche zu wählen, eine Zusatzbelastung.
Früher konnte sich Geri einigermaßen auf seine Beobachtungsgabe verlassen. Er saß in der „SchampBar“ und hielt die Augen offen. Nach kurzer Zeit wusste er, dass man die „Corona“ nicht mehr aus der Flasche am Zitronenschnitz vorbeischlürft, sondern den Schnitz angewidert aus dem Flaschenhals zupft und ein Glas verlangt. Oder er schaute im „Mucho Gusto“ auf die Teller und entwickelte ein Gefühl für den Zeitpunkt, an dem er zum ersten Mal wieder etwas vom Rind bestellen durfte.
Aber in der Begrüßungsfrage herrscht Anarchie. In einer knappen halben Stunde „SchampBar“ beobachtet Geri: Vier klassische Dreifache, zwei Dreifache mit Luftküssen, zwei Doppelte gemischt (Luftküsse/Kontaktküsse), drei Scharaden-Dreifache (10 cm Sicherheitsabstand), zwei einfache, abgewandte Lippenspitzer, einen männlich-gleichgeschlechtlichen Doppelbreschniev, fünf (ein Trend?) einfache Streifer mit Händedruck, einen vierhändigen Schultershaker, zwei Haarstruppler (ungeküsst) und einen neunzigsekündigen Full-Contact-Happyender, bei dem er nicht sicher ist, ob er ihn mitzählen soll. Aber auch ohne den Happyender: Neun Variationen innerhalb eines Musters von nur zweiundzwanzig! Und das unter den Gästen der „SchampBar“, die bekannt sind für ihre Lifestyle-Disziplin.
Geri Weibel zieht den einzigen für ihn plausiblen Schluss: In der Begrüßungsfrage heißt die Regel Deregulierung. Er wird, so schwer es ihm auch fällt, Flexibilität an den Tag legen müssen, wenn er nichts falsch machen will. Antizipieren. Die Signale richtig interpretieren und richtig reagieren. Florettfechten.
Aber im Zeichen der abflauenden Machophobie empfiehlt es sich für den Mann wieder eher, zu agieren statt zu reagieren. Als Geri Weibel im „Mucho Gusto“ Bärlauch-Spaghetti isst, und Susi Schläfli das Lokal betritt, sich kurz umschaut, niemand Besseren kennt und auf seinen Tisch zusteuert, entschließt er sich für den kussfreien Händedruck mit Mundabwischen. Er steht auf, streckt ihr die Hand entgegen und will die Serviette zum Mund führen als er merkt, dass Susi ihm die Wange bereithält. Sofort schießt er vor. Im gleichen Sekundenbruchteil realisiert Susi, dass Geri keinen Begrüßungskuss vorgesehen hat und dreht die Wange weg.
Geri Weibels feuchte Bärlauchlippen und Susi Schläflis Chanel-Cerise-Mund vereinen sich zum ersten einsekündigen Full-Contact-Happyender in der Geschichte des „Mucho Gusto“.
März 1997